Brunetti 16 - Lasset die Kinder zu mir kommen
Kinderbett schlief. An der Tür blieb er noch einmal stehen, aber nur ganz kurz, damit der Junge sich nicht etwa angewöhnte, den Abschied vom Vater hinauszuzögern. Während er ein letztes Mal auf das kleine Bündel blickte, wurden ihm die Augen feucht. Doch da es ihm peinlich gewesen wäre, sich so vor seiner Frau zu zeigen, wischte er die Tränen fort, ehe er sich von der offenen Tür abwandte.
Als er in die Küche kam, goß Bianca gerade die Nudeln ab und hatte ihm den Rücken zugewandt. Gustavo machte den Kühlschrank auf und nahm einen Moet & Chandon aus dem untersten Fach. Er stellte die Flasche auf den Küchentresen und holte zwei geschliffene Sektflöten von dem Zwölferset aus der Vitrine, das Biancas Schwester ihnen zur Hochzeit geschenkt hatte.
»Champagner?« fragte Bianca freudig überrascht.
»Mein Sohn hat papà zu mir gesagt«, antwortete Gustavo und schälte die Goldfolie vom Korken. Ihrem skeptischen Blick ausweichend, ergänzte er: »Unser Sohn. Aber weil er papà gesagt hat, möchte ich ihn, dieses eine Mal, meinen Sohn nennen. Nur für eine Stunde, okay?«
Sein verklärtes Gesicht hatte etwas so Rührendes, daß Bianca die dampfende Pasta stehenließ und zu ihrem Mann trat. Sie nahm die Gläser vom Tisch und hielt sie ihm hin. »Schenk bitte ein, damit wir auf deinen Sohn anstoßen können.« Dann beugte sie sich vor und küßte ihn auf den Mund.
Wie damals, in den ersten Tagen ihrer Ehe, wurde die Pasta in der Spüle kalt, und sie tranken den Champagner im Bett. Lange nachdem die Flasche leer war, tappten sie nackt und mit knurrendem Magen in die Küche. Sie verschmähten die eingetrocknete Pasta und löffelten statt dessen, an den Tresen gelehnt, die Tomatensauce auf dicke Brotscheiben, mit denen sie sich gegenseitig fütterten und die sie mit einer halben Flasche Pinot Grigio hinunterspülten. Dann gingen sie zurück ins Schlafzimmer.
Erschöpft hing Gustavo der Erinnerung an diesen schönen Abend nach und wunderte sich, wieso er in den letzten Monaten befürchtet hatte, Bianca habe sich verändert in ihrer ... ja, worin? Er wußte aus seiner Praxis, daß es ganz natürlich war, wenn eine Mutter kurz nach der Geburt eines Kindes aus dem Gleichgewicht geriet und sich vorübergehend scheinbar nicht mehr für den Vater interessierte. Doch mit dieser Nacht, in der sie sich beide aufführten wie zwei wildgewordene Teenager, die gerade für sich den Sex entdeckt hatten, waren alle Unsicherheiten verflogen.
Und er hatte dieses Wort gehört: Sein Sohn hatte ihn papà genannt. Wieder wollte Gustavo das Herz übergehen, und er schmiegte sich fester an Bianca, in der leisen Hoffnung, daß sie aufwachen und sich ihm zuwenden würde. Doch sie schlief weiter, und er dachte an den nächsten Morgen und den Frühzug nach Padua, den er erreichen mußte, weshalb er sich auf Schlaf polte, nun bereit, in dessen sanftes Reich hinüberzugleiten und vielleicht von einem zweiten Sohn zu träumen oder von einer Tochter oder von beiden.
Vage bemerkte er ein Geräusch jenseits der Schlafzimmertür und strengte sich an, hinzuhören, festzustellen, ob Alfredo weinte oder nach ihm rief. Aber da war der hallende Ton schon verklungen, und so ließ er sich wieder fallen; seine Lippen kräuselten sich, in Erinnerung an jenes Wort, zu einem Lächeln.
Als Dottore Gustavo Pedrolli in den ersten Tiefschlaf dieser Nacht sank, kam das Geräusch wieder, aber weder er hörte es, noch seine Frau, die nackt, erschöpft und liebessatt neben ihm schlummerte, noch das glückselige Kind im anderen Zimmer, das vielleicht von dem wunderbaren, heute abend erlernten neuen Spiel träumte, bei dem der Kleine in der Obhut des Mannes, von dem er jetzt wußte, daß es sein papà war, ein sicheres Versteck fand.
Die Zeit verrann, und Träume gaukelten durch die Köpfe der Schlafenden. Sie sahen Schwingungen und Farben; einer von ihnen sah etwas, das einem Tiger ähnelte; und alle drei schliefen weiter.
Bis die Nacht explodierte. Die Wohnungstür barst nach innen und knallte gegen die Wand: Die Klinke rammte ein Loch in den Putz. Ein Mann enterte die Wohnung: Er trug eine Skimaske, einen Tarnanzug, schwere Stiefel und hielt eine Maschinenpistole im Anschlag. Ihm folgte ein zweiter Maskierter in ähnlicher Montur. Hinter den beiden kam ein Hüne in dunkler Uniform, aber ohne Maske. Zwei weitere Männer in der gleichen dunklen Kluft postierten sich draußen vor dem Haus.
Die beiden Maskierten stürmten durchs Wohnzimmer und den Flur entlang
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