Bruno Chef de police
Stock zu tragen, solange der andere ohne Gehhilfe zurechtkam. Bruno fragte sich, wie viel Wut und Rachsucht nötig waren, um schwächlichen Greisen wie ihnen die Kraft zu verleihen, einen gleichaltrigen Mann mit Schlägen und Messerstichen zu ermorden.
Er musterte sie neugierig, als er ihnen die Fahnen aushändigte, Jean-Pierre die Trikolore und Bachelot, dem Gaullisten, das Lothringer Kreuz. Die beiden schauten argwöhnisch zu ihm auf und tauschten dann einen flüchtigen Blick.
»Nach allem, was Sie durchgemacht haben und was Sie miteinander verbindet - und ich meine nicht zuletzt das Geheimnis, das Sie seit einem Monat mit sich herumtragen -, finden Sie nicht auch, dass es höchste Zeit ist, dass zwei alte Widerstandskämpfer endlich wieder ins Gespräch miteinander kommen?«, fragte Bruno mit leiser Stimme.
Jean-Pierre und Bachelot standen schweigend da und rührten sich nicht. Beide hatten eine kleine Trikolore am Revers stecken, und jeder erinnerte sich auf seine Weise an einen Tag im Mai vor sechzig Jahren, als die
Force mobile
nach Saint-Denis gekommen war, vor allem aber wohl auch an einen Tag im Mai dieses Jahres, an dem sie der Schrecken wieder eingeholt und abermals, nun sie selbst, zu einem Verbrechen angestiftet hatte.
»Was soll das heißen?«, blaffte Bachelot. Er wandte sich ab und schaute seinem alten Feind Jean-Pierre ins Gesicht.
Ihr Blickwechsel erinnerte Bruno an zwei kleine Schuljungen, die sich hartnäckig weigern, für die zerbrochene Glasscheibe Verantwortung zu übernehmen, obwohl beide eine Steinschleuder in der Hand halten. Die beiden schauten ebenso trotzig drein und täuschten Unschuld vor. Wie viel doch ein einziger Blick verrät, dachte Bruno und stellte sich vor, mit welchem Ausdruck die beiden einander angesehen hatten, als ihnen der alte Araber auf der Siegesparade nach so langer Zeit wieder zu Gesicht gekommen war. Zwei Veteranen, die seit Jahrzehnten jeden Blickkontakt vermieden hatten, waren - womöglich auf Anhieb und wortlos - übereingekommen, gemeinsame Sache zu machen und Rache zu üben. Bruno fragte sich, wie wohl ihr erstes Gespräch verlaufen war und wie es zu dem Entschluss hatte kommen können, einen Mord zu begehen, den sie aller Wahrscheinlichkeit nach als Hinrichtung verstanden, als legitime Tat im Sinne einer gerechten Bestrafung.
»Wenn Sie was zu sagen haben, sagen Sie's«, knurrte Jean-Pierre. »Wir haben uns nichts vorzuwerfen.« Bachelot, der neben ihm stand, nickte, die Lippen fest aufeinandergepresst.
»Die Rache ist mein, spricht der Herr«, zitierte Bruno.
Diesmal war zwischen den beiden kein Blick mehr nötig. Mit gestrafften Schultern und stolz erhobenem Kopf starrten sie dem Polizisten ins Gesicht.
«Vive la France«,
riefen beiden unisono und marschierten mit ihren Fahnen los, um die Parade anzuführen, als die Blaskapelle die
Marseillaise
anstimmte.
Impressum
Bruno Chef de police)
von Martin Walker (Autor)
Preis: EUR 9,90
Broschiert: 352 Seiten
Verlag: Diogenes (Juni 2010)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3257240465
ISBN-13: 978-3257240467
Originaltitel: Bruno, Chief of Police
ebook Erstellung - Mai 2010 - TUX
Ende
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