Buch des Todes
einigermaßen objektive Antwort zu erhalten, denn wenn er Felicia fragte, sagte sie doch nur, es ginge ihr gut. Inzwischen war Felicia tatsächlich auf dem Weg der Besserung, und alles heil te, wie es sollte.
Den jungen Pfleger, den er heute ansprach, hatte er noch nie gesehen.
»Felicia Stone? Die wurde heute Morgen entlassen«, behauptete er.
Singsaker starrte ihn entgeistert an.
»Das kann doch nicht sein?« sagte er. »Davon weiß ich nichts.«
»Sie hat diese Entscheidung heute Morgen bei der Visite gemeinsam mit dem Arzt getroffen. Ich war dabei«, sagte der Pfleger.
»Sie sollte doch erst morgen entlassen werden«, sagte Singsaker und ging auf ihr Zimmer zu. Er öffnete die Tür und sah einen älteren Mann mit Bart, dessen Haare in alle Richtungen abstanden. Er saß in einem viel zu engen Morgenmantel auf dem Bett, in dem Felicia gelegen hatte.
Auf dem Weg aus dem Krankenhaus wählte er ihre Nummer und fragte sich, warum sein Puls so raste. Der Fall war gelöst. Der Mörder gefasst. Und dass sie einen Tag früher entlassen wurde, war doch nur positiv.
Felicias Nummer war besetzt.
»Aber, mein Mädchen, warum hast du uns denn nie was davon erzählt?« Die Stimme ihres Vaters klang so nah, als säße er bei ihr in Trondheim im Hotel und nicht mehr als 7 000 Kilometer entfernt in einem Zimmer, das sie besser kannte als alle anderen auf der Welt.
»Ihr müsst euch doch so was in der Art gedacht haben?« Ihre Stimme war ohne jede Anklage. Schuldgefühle waren das Letzte, was sie jetzt zwischen sich gebrauchen konnten.
»Ja, wir haben darüber gesprochen, dass es irgendwelche sexuellen Gründe haben könnte.« Ihr Vater war ehrlich.Abstand war da manchmal sehr hilfreich, dachte sie und spürte, dass die Zeit reif war, um dieses Gespräch zu führen.
»Die Sache ist noch nicht verjährt«, sagte ihr Vater.
»Doch, das ist sie. Endlich ist sie das«, entgegnete sie.
Der Vater verstand, was sie meinte.
»Dann bist du bereit, alles hinter dir zu lassen?«
»Das weiß ich nicht.Aber ich glaube, dass ich jetzt keine Angst mehr vor der Vergangenheit habe.Außerdem reicht es vielleicht, in dieser Runde nur einen Nevins einzubuchten.« Sie lachte.
»Ihr habt verdammt gute Arbeit geleistet, Mädchen«, sagte er. »Wer hätte gedacht, dass der Poe-Mord im Laufe nur weniger Wochen aufgeklärt werden würde?«
»Bist du etwa stolz auf mich?«, fragte sie und spürte plötzlich wieder diesen vertrauten Ton, der früher oft in den Gesprächen mit ihrem Vater mitgeklungen hatte, der aber schon so lange verschwunden war.
»Ein bisschen, vielleicht?«, antwortete ihr Vater fragend.
Felicia Stone war immer schon schlank gewesen. Nach dem Gespräch mit ihrem Vater, in dem sie ihm so detailliert wie nur möglich erzählt hatte, was damals in jener Nacht in Shaun Nevins’ Zimmer passiert war, fühlte sie sich zum ersten Mal seit vielen, vielen Jahren auch leicht.
Felicia tastete mit den Fingern nach der Stelle auf dem Rücken, an der das Messer eingedrungen war.Aber nachdem ihr tags zuvor die Fäden gezogen worden waren und das Jucken nachgelassen hatte, konnte sie die Narbe auf dem noch immer extrem empfindlichen Rücken nicht finden. Sie ließ von dem Vorhaben ab und dachte über den Fall nach, an dessen Lösung sie beteiligt gewesen war. Odd hatte sie täglich im Krankenhaus über alle Neuigkeiten aus Richmond und Trondheim informiert.
Wenn man den Forschern Glauben schenken konnte, die gerade erst begonnen hatten, den Palimpsest von Pater Johannes und das sogenannte Messerpergament, das in Jens Dahles Besitz gewesen war, zu analysieren, deutete vieles darauf hin, dass sich Dahle von Norwegens vermutlich größtem Serientäter, einem verrückten Pater mit sehr guten Anatomiekenntnissen, hatte inspirieren lassen.
Die Arbeit am Johannes-Palimpsest , wie er inzwischen genannt wurde, wurde durch die Röntgenbilder erleichtert, die im Johns-Hopkins-Institut in den USA für den Kurator des Poe-Museums in Richmond gemacht worden waren. Diese Bilder waren bei der Durchsuchung des Büros von John Shaun Nevins aufgetaucht, der seine ganz persönlichen Gründe gehabt hatte, alle möglichen Entdeckungen rund um das Johannesbuch und seine verlorenen Attribute unter den Teppich zu kehren. Nevins, dem die Entdeckungen bekannt waren, die Bond in Zusammenarbeit mit Gunn Brita Dahle bereits gemacht hatte, hatte offensichtlich beabsichtigt, diese für seine eigene akademische Karriere zu nutzen, wenn auch erst in ein paar Jahren,
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