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Buddenbrooks

Buddenbrooks

Titel: Buddenbrooks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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auf der kahlen Stirn des Zahnarztes kleine Schweißtropfen perlten, und daß sein Mund ebenfalls von Angst verzogen war … Und wenn der abscheuliche Vorgang vorüber, wenn Hanno, bleich, zitternd, mit thränenden Augen und entstelltem Gesicht, sein Blut in die blaue Schale zu seiner Seite spie, so mußte Herr Brecht einen Augenblick irgendwo Platz nehmen, sich die Stirn trocknen und ein wenig Wasser trinken …
    Man versicherte den kleinen Johann, daß dieser Mann ihm viel Gutes thue und ihn vor vielen noch größeren Schmerzen bewahre; aber wenn Hanno die Pein, die Herr Brecht ihm zugefügt, mit dem positiven und fühlbaren Vorteil verglich, den {565} er ihm verdankte, so überwog die erstere zu sehr, als daß er nicht Alle diese Besuche in der Mühlenstraße zu den schlimmsten aller unnützen Qualen hätte rechnen müssen. Im Hinblick auf die Weisheitszähne, die dermaleinst kommen würden, mußten vier Backenzähne, die soeben, weiß, schön und noch vollkommen gesund herangewachsen waren, entfernt werden, und das nahm, da man das Kind nicht überanstrengen wollte, vier Wochen in Anspruch. Was für eine Zeit! Diese langgezogene Marter, in der schon die Angst vor dem Bevorstehenden wieder einsetzte, wenn noch die Erschöpfung nach dem Überstandenen herrschte, ging zu weit. Als der letzte Zahn gezogen war, lag Hanno acht Tage lang krank, und zwar aus reiner Ermattung.
    Übrigens beeinflußten diese Zahnbeschwerden nicht nur seine Gemütsstimmung, sondern auch die Funktionen einzelner Organe. Die Behinderungen beim Kauen hatten immer wieder Verdauungsstörungen, ja auch Anfälle von gastrischem Fieber zur Folge, und diese Magenverstimmungen standen im Zusammenhange mit vorübergehenden Anfällen von verstärktem oder geschwächtem unregelmäßigen Herzschlag und Schwindelgefühlen. Bei Alldem bestand unvermindert, ja verstärkt, das seltsame Leiden fort, das Doktor Grabow »pavor nocturnus« nannte. Kaum eine Nacht verging, ohne daß der kleine Johann ein- oder zweimal emporfuhr und händeringend, mit allen Anzeichen der unerträglichsten Angst nach Hilfe oder Erbarmen rief, als stände er in Flammen, als wollte man ihn erwürgen, als geschähe etwas unsäglich Grauenhaftes … Am Morgen wußte er nichts mehr von Allem. – Doktor Grabow suchte dieses Leiden mit einem abendlichen Trunk von Heidelbeersaft zu behandeln; allein das half ganz und gar nichts.
    Die Hemmungen, denen Hannos Körper unterworfen war, die Schmerzen, die er erlitt, verfehlten nicht, in ihm jenes {566} ernsthafte Gefühl vorzeitiger Erfahrenheit hervorzurufen, das man Altklugheit nennt, und wenn es auch, gleichsam als würde es von einer überwiegenden Begabung mit gutem Geschmacke niedergehalten, nicht oft und durchaus nicht aufdringlich zu Tage trat, so äußerte es sich doch hie und da in Form einer wehmütigen Überlegenheit … »Wie geht es dir, Hanno?« fragte Jemand von seinen Verwandten, seine Großmutter, die Damen Buddenbrook aus der Breitenstraße … und ein kleines, resigniertes Emporziehen des Mundes, ein Zucken seiner vom blauen Matrosenkragen bedeckten Achseln war die ganze Antwort.
    »Gehst du gern zur Schule?«
    »Nein«, antwortete Hanno ruhig und mit einer Offenheit, welche angesichts ernsterer Dinge es nicht der Mühe wert erachtet, in solchen Angelegenheiten zu lügen.
    »Nicht? O! Man muß aber doch lernen, Schreiben, Rechnen, Lesen …«
    »Und so weiter«, sagte der kleine Johann.
    Nein, er ging nicht gern in die alte Schule, diese ehemalige Klosterschule mit Kreuzgängen und gotisch gewölbten Klassenzimmern. Fehlen wegen Unwohlseins und gänzliche Unaufmerksamkeit, wenn seine Gedanken bei irgend einer harmonischen Verbindung oder den noch unenträtselten Wundern eines Musikstückes weilten, das er von seiner Mutter und Herrn Pfühl gehört, förderten ihn nicht eben in den Wissenschaften, und die Hilfslehrer und Seminaristen, die ihn in diesen unteren Klassen unterrichteten, und deren gesellschaftliche Unterlegenheit, geistige Gedrücktheit und körperliche Ungepflegtheit er empfand, flößten ihm neben der Furcht vor Strafe eine heimliche Mißachtung ein. Herr Tietge, der Rechenlehrer, ein kleiner Greis in fettigem schwarzen Rock, der schon zur Zeit des verstorbenen Marcellus Stengel im Dienste der Anstalt gewirkt hatte, und der auf eine unmögliche Weise {567} in sich hineinschielte, was er durch Brillengläser, rund und dick wie Schiffsluken, zu korrigieren suchte, – Herr Tietge gemahnte den kleinen

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