Buddenbrooks
hatten, und eine große Sympathie für diesen Kameraden unter allen Übrigen hatte ihn ganz erfüllt. Dennoch war er viel zu zurückhaltend, als daß er den Mut gefunden hätte, die Freundschaft einzuleiten, und ohne die rücksichtslose Initiative des kleinen Kai wären die Beiden einander wohl fremd geblieben. Ja, das leidenschaftliche Tempo, mit dem Kai sich ihm genähert, hatte den kleinen Johann anfangs sogar erschreckt. Dieser kleine, verwahrloste Gesell hatte mit einem Feuer, einer stürmisch aggressiven Männlichkeit um die Gunst des stillen, elegant gekleideten Hanno geworben, der gar nicht zu widerstehen gewesen war. Zwar konnte er ihm beim Unterricht nicht behilflich sein, denn seinem ungezähmten und frei umherschweifenden Sinn war das Einmaleins etwas ebenso Abscheuliches, wie dem träumerisch abwesenden des kleinen Buddenbrook; aber er hatte ihn mit Allem beschenkt, was sein gewesen war, mit Glaskugeln, Holzkreiseln und sogar mit einer kleinen, verbogenen Blechpistole, obgleich sie das Beste war, was er besaß … Hand in Hand mit ihm, in den Pausen, hatte er ihm von seinem Heim, von den jungen Hunden und Hühnern {570} erzählt und hatte ihn mittags, obgleich stets Ida Jungmann, ein Päckchen belegten Butterbrotes in der Hand, ihren Pflegling vor der Schulthür zum Spazierengehen erwartete, so weit wie möglich begleitet. Bei dieser Gelegenheit hatte er erfahren, daß der kleine Buddenbrook zu Hause Hanno genannt wurde, und sofort hatte er sich dieses Kosenamens bemächtigt, um seinen Freund nun nie mehr anders zu nennen.
Eines Tages hatte er verlangt, daß Hanno, statt nach dem Mühlenwall, mit ihm nach seines Vaters Besitz spazieren gehe, um neugeborene Meerschweinchen zu besehen, und Fräulein Jungmann hatte endlich den Bitten der Beiden nachgegeben. Sie waren nach dem gräflichen Anwesen hinausgewandert, hatten den Misthaufen, das Gemüse, die Hunde, Hühner und Meerschweinchen in Augenschein genommen und waren schließlich auch in das Haus eingetreten, woselbst in einem niedrigen, langgestreckten Raume zu ebener Erde Graf Eberhard, ein Bild trotziger Vereinsamung, lesend an einem schweren Bauerntisch gesessen und unwirsch nach dem Begehren gefragt hatte …
Ida Jungmann war nicht zu bewegen gewesen, diesen Besuch zu wiederholen; vielmehr hatte sie darauf bestanden, daß, wollten die Beiden bei einander sein, Kai lieber Hanno besuchen sollte, und so hatte der kleine Graf denn zum ersten Male mit aufrichtiger Bewunderung, aber doch ohne Scheu das prachtvolle Vaterhaus seines Freundes betreten. Von da an hatte er oft und öfter sich eingestellt, und nun konnte nur im Winter hoch liegender Schnee ihn hindern, den weiten Weg am Nachmittage noch einmal zurückzulegen, um ein paar Stunden bei Hanno Buddenbrook zu verbringen.
Man saß in dem großen Kinderzimmer im zweiten Stockwerk zusammen und erledigte seine Schularbeiten. Es gab da lange Rechenaufgaben zu lösen, die, nachdem man beide Seiten der Schiefertafel mit Additionen, Subtraktionen, Multiplika {571} tionen und Divisionen bedeckt hatte, am Ende und als Resultat ganz einfach Null ergeben mußten – wo nicht, so steckte irgendwo ein Fehler, der gesucht, gesucht werden mußte, bis man das kleine bösartige Tier gefunden hatte und vertilgen konnte: und hoffentlich steckte er nicht zu hoch, weil sonst beinahe das Ganze noch einmal geschrieben werden mußte. Ferner galt es, sich mit deutscher Grammatik zu beschäftigen, die Kunst der Komparation zu erlernen und ganz reinlich und gradlinig Betrachtungen unter einander zu schreiben, wie zum Beispiel: »Horn ist durchsichtig, Glas ist durchsichtiger, Luft ist am durchsichtigsten.« Worauf man sein Diktatheft zur Hand nahm, um Sätze zu studieren, wie dieser: »Unsere Hedwig ist zwar sehr willig, aber den Kehricht auf dem Estrich fegt sie niemals ordentlich zusammen.« Bei dieser Übung voller Versuchungen und Fußangeln hatte die Absicht bestanden, daß man Hedwig, willig und fegt, mit einem ch, Estrich mit g und Kehricht womöglich ebenfalls mit einem g schreiben sollte, und das hatte man denn auch gründlich besorgt, weshalb nun die Korrektur vorgenommen werden mußte. War aber Alles fertig, so packte man ein und setzte sich auf das Fensterbrett, um Ida vorlesen zu hören.
Die gute Seele las vom Katerlieschen, von Dem, der auszog, das Fürchten zu lernen, von Rumpelstilzchen, Rapunzel und Froschkönig – mit tiefer, geduldiger Stimme und halb geschlossenen Augen, denn sie sagte die Märchen,
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