Buddenbrooks
die sie in ihrem Leben schon allzu oft gelesen, beinahe ganz aus dem Kopfe her, und dabei schlug sie mechanisch die Blätter mit dem benetzten Zeigefinger um.
Bei dieser Unterhaltung aber geschah das Merkwürdige, daß in dem kleinen Kai sich das Bedürfnis zu regen und auszubilden begann, es dem Buche gleich zu thun und selbst etwas zu erzählen, und das war um so erwünschter, als man die gedruckten Märchen allmählich alle kannte, und auch Ida sich dann {572} und wann ein wenig ausruhen mußte. Kais Geschichten waren anfangs kurz und einfach, wurden dann aber kühner und komplizierter und gewannen an Interesse dadurch, daß sie nicht gänzlich in der Luft standen, sondern von der Wirklichkeit ausgingen und diese in ein seltsames und geheimnisvolles Licht rückten … Besonders gern vernahm Hanno die Erzählung von einem bösen aber außerordentlich mächtigen Zauberer, der einen schönen und hochbegabten Prinzen mit Namen Josephus in der Gestalt eines bunten Vogels bei sich gefangen halte und alle Menschen mit seinen tückischen Künsten quäle. Schon aber wachse in der Ferne der Auserwählte heran, welcher dereinst, an der Spitze einer unwiderstehlichen Armee von Hunden, Hühnern und Meerschweinchen, gegen den Zauberer furchtlos zu Felde ziehen und den Prinzen, sowie die ganze Welt, besonders aber Hanno Buddenbrook vermittelst eines Schwertstreiches von ihm erlösen werde. Dann werde, befreit und entzaubert, Josephus in sein Reich zurückkehren, König werden und Hanno sowohl, wie Kai zu sehr hohen Würden emporsteigen lassen …
Senator Buddenbrook, der hie und da, wenn er das Kinderzimmer passierte, die Freunde beisammen sah, hatte gegen diesen Verkehr nichts einzuwenden, denn es war leicht zu beobachten, daß die Beiden einander vorteilhaft beeinflußten. Hanno wirkte besänftigend, zähmend und geradezu veredelnd auf Kai, der ihn zärtlich liebte, die Weiße seiner Hände bewunderte und sich ihm zuliebe die seinen von Fräulein Jungmann mit Bürste und Seife behandeln ließ. Und wenn Hanno seinerseits ein wenig Frische und Wildheit von dem kleinen Grafen empfing, so war das mit Freude zu begrüßen, denn Senator Buddenbrook verhehlte sich nicht, daß die beständige weibliche Obhut, unter welcher der Junge stand, nicht eben geeignet war, die Eigenschaften der Männlichkeit in ihm anzureizen und zu entwickeln.
{573} Die Treue und Hingebung der guten Ida Jungmann, die nun schon länger, als drei Jahrzehnte den Buddenbrooks diente, war ja mit Gold nicht zu bezahlen. Sie hatte die vorhergehende Generation mit Aufopferung gehegt und gepflegt: Hanno aber trug sie auf Händen, sie hüllte ihn gänzlich in Zärtlichkeit und Sorgfalt ein, sie liebte ihn abgöttisch und ging in ihrem naiven und unerschütterlichen Glauben an seine absolut bevorzugte und bevorrechtigte Stellung in der Welt, oftmals bis zum Absurden. Sie war, galt es, für ihn zu handeln, von erstaunlicher und manchmal peinlicher Unverfrorenheit. Gelegentlich eines Einkaufs beim Konditor zum Beispiel unterließ sie es niemals, sehr ungeniert in die ausgestellten Schalen hineinzugreifen, um ihm diese oder jene Süßigkeit zuzustecken, ohne dafür zu bezahlen – denn konnte der Mann sich nicht nur geehrt fühlen? Und vor einem umlagerten Schaufenster war sie sofort bei der Hand, die Leute in ihrem westpreußischen Dialekt freundlich aber entschieden um Platz für ihren Schützling zu ersuchen. Ja, er war in ihren Augen etwas so ganz Besonderes, daß sie kaum je ein anderes Kind würdig gehalten hatte, mit ihm in Berührung zu kommen. Was den kleinen Kai betraf, so war die beiderseitige Zuneigung stärker gewesen, als ihr Mißtrauen; auch hatte der Name sie ein wenig bestochen. Gesellten sich aber auf dem Mühlenwall, wenn sie sich mit Hanno auf einer Bank niedergelassen hatte, andere Kinder mit ihrer Begleitung zu ihnen, so erhob Fräulein Jungmann sich beinahe sogleich und ging unter irgend einem Vorwande von Verspätung oder Zugwind von dannen. Die Erklärungen, die sie dem kleinen Johann dafür zu teil werden ließ, waren geeignet, in ihm die Vorstellung zu erwecken, als seien alle seine Altersgenossen mit Skropheln und »Bösen Säften« schwer behaftet, – nur er nicht. Und das trug nicht gerade dazu bei, seine so wie so schon mangelnde Zutraulichkeit und Unbefangenheit zu stärken.
Senator Buddenbrook wußte von solchen Einzelheiten {574} nicht; aber er sah, daß die Entwicklung seines Sohnes von Natur und infolge äußerer Einflüsse
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