Buddenbrooks
wie gewisse Leute es wollen, halte ich ebenfalls für unwahrscheinlich. Es giebt im Geschäftsleben moderneren Stiles etwas, was man Usance nennt … Eine Usance, verstehst du, das ist ein Manöver, das nicht ganz einwandfrei ist, sich nicht ganz mit dem geschriebenen Gesetze verträgt, und für den Laienverstand schon unredlich aussieht, das aber dennoch nach stillschweigender Übereinkunft in der Geschäftswelt gang und gäbe ist. Die Grenzlinie zwischen Usance und Schlimmerem ist sehr schwer zu ziehen … Einerlei … Wenn Weinschenk sich vergangen hat, so hat er es höchstwahrscheinlich nicht ärger getrieben, als viele {579} seiner Kollegen, die ungestraft davongekommen sind. Aber … für einen günstigen Ausgang des Prozesses stehe ich deshalb durchaus nicht. Vielleicht würde er in einer großen Stadt freigesprochen werden; aber hier, wo Alles auf Cliquenwesen und persönliche Motive hinausläuft … Das hätte er bei der Wahl seines Verteidigers besser bedenken sollen. Wir haben hier in der Stadt keinen hervorragenden Anwalt, keinen eminenten Kopf mit überlegenem und überzeugendem Rednertalent, der mit allen Hunden gehetzt und in den bedenklichsten Sachen versiert wäre. Dafür aber hängen unsere Herren Juristen unter einander zusammen, sie sind einander verbunden durch gemeinsame Interessen, durch Mittagessen, womöglich durch Verwandtschaft, und haben auf einander Rücksicht zu nehmen. Meiner Ansicht nach wäre es klug gewesen, wenn Weinschenk einen hier ansässigen Advokaten genommen hätte. Aber was hat er gethan? Er hat es für nötig befunden, – ich sage für nötig befunden, und Das giebt zuletzt über sein gutes Gewissen zu denken –, sich einen Verteidiger aus Berlin zu verschreiben, den Doktor Breslauer, einen rechten Teufelsbraten, einen geriebenen Redner, einen raffinierten Rechtsvirtuosen, dem der Ruhm vorangeht, so und so vielen betrügerischen Bankerottiers am Zuchthaus vorbeigeholfen zu haben. Der wird nun ohne Zweifel die Sache gegen ein sehr großes Honorar mit ebenso großer Schlauheit führen … Aber ob das von Nutzen sein wird? Ich sehe es kommen, daß unsere wakkeren Rechtsgelehrten sich mit Händen und Füßen dagegen sträuben werden, sich von dem fremden Herrn imponieren zu lassen, und daß der Gerichtshof für Doktor Hagenströms Plaidoyer ein sehr viel willigeres Ohr haben wird … Und die Zeugen? Was sein eigenes Geschäftspersonal betrifft, so glaube ich nicht, daß es ihm besonders liebevoll zur Seite stehen wird. Das, was wir Wohlwollenden – und, ich glaube, auch er selbst – seine rauhe Außenseite nennen, hat ihm nicht viele Freunde ge {580} macht … Kurz, Mutter, mir ahnt Arges. Es wäre ja schlimm für Erika, wenn es ein Unglück gäbe, aber am wehesten sollte es mir um Tony thun. Siehst du, sie hat ja recht, wenn sie sagt, daß Hagenström die Sache mit Genugthuung in die Hand genommen hat. Sie geht uns Alle an, und ein schmählicher Ausgang würde uns insgesamt betreffen, denn Weinschenk gehört einmal zur Familie und sitzt an unserem Tische. Was mich angeht, ich komme darüber hinweg. Ich weiß, wie ich mich zu benehmen habe. Ich muß in der Öffentlichkeit der Sache ganz fremd gegenüberstehen, darf nicht die Verhandlungen besuchen – obgleich Breslauer mich interessieren würde – und darf mich, schon um mich vor dem Vorwurf irgend welcher Beeinflussungsgelüste zu wahren, überhaupt um nichts bekümmern. Aber Tony? Ich mag nicht ausdenken, wie traurig eine Verurteilung für sie wäre. Man muß hören, wie aus ihren lauten Protesten gegen Verläumdung und neidische Intriguen die Angst herausklingt … die Angst, nach allem Malheur, das sie erduldet, auch dieser letzten, ehrenvollen Position, des würdigen Hausstandes ihrer Tochter noch verlustig zu gehen. Ach, paß auf, sie wird immer lauter Weinschenks Unschuld beteuern, je mehr sie zu Zweifeln daran gedrängt werden wird … Aber er kann ja auch unschuldig sein, gewiß, ganz unschuldig sein … Wir müssen es abwarten, Mutter, und ihn und Tony und Erika taktvoll behandeln. Aber mir ahnt nichts Gutes …«
*
Unter solchen Umständen kam diesmal das Weihnachtsfest heran, und der kleine Johann verfolgte mit Hülfe des Abreißkalenders, den Ida ihm angefertigt, und auf dessen letztem Blatte ein Tannenbaum gezeichnet war, pochenden Herzens das Nahen der unvergleichlichen Zeit.
Die Vorzeichen mehrten sich … Schon seit dem ersten Advent hing in Großmamas Eßsaal ein lebensgroßes,
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