Bufo & Spallanzani
Bereitschaftsdienst in der Wache zog er oft noch nicht einmal die Schuhe zum Schlafen aus. Nach so vielen schlecht verbrachten Nächten war sein Schlaf ein Zustand halbbewußter Alarmbereitschaft, in dem er wie durch Nebel wahrnahm, was rings um ihn geschah. Selbst wenn er im eigenen Bett schlief, wachte er immer zerschlagen auf. Und genau so, todmüde, wachte er an diesem Tag kurz nach fünf auf, als es draußen noch dunkel war. Er duschte, rasierte sich, zog sich an. Er kochte Wasser und machte sich einen Pulverkaffee. Morgens hatte er nie Hunger, sein Frühstück bestand immer nur aus dieser einen Tasse Kaffee.
Die Rua Barata Ribeiro, in der er wohnte, war leer, als er aus dem Haus ging. In ein paar Stunden würde dort ein Inferno aus Gehupe und Motorengeknatter herrschen. An manchen Tagen legte er, wenn er dazu Lust hatte, den Weg von seiner Wohnung zum 14. Kommissariat, das sich in der Rua Humberto de Campos, Ecke Avenida Afrânio de Melo Franco im Stadtteil Leblon befand, eine Strecke von über fünf Kilometern, zu Fuß zurück.
Durch die Rua Figueiredo de Magalhães gelangte er zur Avenida Copacabana. Die Geschäfte waren noch geschlossen; Bettler, Arbeitslose, Bewohner der Türnischen standen schon auf und machten sich bereit, geräuschlos ihre Schlafwinkel zu verlassen, ehe die Hauswarte und Dienstboten anfingen, die mit portugiesischen Steinen gepflasterten Bürgersteige mit Schläuchen abzuspritzen. Ohne Autos und Fußgänger war diese grauenhafte Straße wunderschön. Guedes mochte leere Straßen. Sonntags fuhr er meistens ins Stadtzentrum und ging in den menschenleeren Straßen spazieren.
Als er die Rua Francisco Sá erreichte, bog er nach rechts in Richtung Ipanema ab. Auf der Praça General Osório setzte er sich auf eine Bank. Neben einem Baum entleerte ein buckliger Alter seinen Darm. Guedes bemerkte, daß aus dem Fenster eines Apartments eine Frau den Alten mit angeekeltem Gesicht beobachtete. Nachher führt sie ihren Cockerspaniel zum Scheißen auf den Platz, dachte der Polizist, und will nicht, daß die Scheiße von den beiden sich vermengt.
Von dem Platz aus ging Guedes durch die Rua Visconde de Pirajá bis zur Parkanlage Jardim de Alá, einem weiteren Sammelplatz der Bettler. Zur Rechten erhob sich der Gebäudekomplex der ihm wohlbekannten Sozialsiedlung Cruzada São Sebastião. Der Polizist überquerte den Kanal, an dem ein einsamer Fischer versuchte, mit einem Kescher einen Fisch zu fangen, der vielleicht gerade von der Lagoa Rodrigo de Freitas kam oder dahin unterwegs war. In der Avenida Ataulfo de Paiva hatten die Bäckereien und Metzger schon geöffnet und auch die wenigen Kneipen, die es da noch gab. Aus den Häusern kamen die ersten Schüler in Uniform, mit bunten Rucksäcken über der Schulter.
Schließlich erreichte Guedes die Rua Afrânio de Melo Franco, Die letzten Gäste des Scala, das gegenüber dem Kommissariat lag, hatten gerade das Lokal verlassen; die Neonlichter des Nachtklubs, die für Brazilian Follies Reklame machten, brannten noch.
Die Polizisten vom 14. Kommissariat waren an Guedes’ Frühaufsteher-Gepflogenheiten gewöhnt.
»Kannst du mich mal eben vertreten?« fragte Mantuano, der Bereitschaftsdienst hatte. »Ich will nur kurz einen Kaffee trinken gehen.«
Guedes überflog die Ereignismeldungen. Opfer von Totschlag und Morden, Verkehrsunfälle mit Todesfolge, ein Brand, eine Vergewaltigung, Diebstähle und Raubüberfälle. Raub liegt laut dem brasilianischen Strafgesetzbuch dann vor, wenn die fremde Sache der Person unter Anwendung von Gewalt oder ernster Bedrohung entwendet wird oder nachdem die Person, gleich auf welche Art, in den Zustand der Wertlosigkeit versetzt worden ist. Die alten Polizisten sagten, früher seien Diebstähle die Regel gewesen (Einbrecher, die durch offene Fenster einstiegen, Handtaschendiebe, Ganoven, die die Unachtsamkeit argloser Naivlinge ausnutzten), und Raub sei selten vorgekommen; mit brennendem Licht konnte man Einbrecher abschrecken. Heute überstiegen die Raubüberfälle die Diebstähle, denn die Verbrecher ließen sich durch nichts mehr einschüchtern. Einer der letzten Fälle, in denen Guedes ermittelt hatte, war ein Raubüberfall in einer Villa im vornehmen Alto Leblon, während eines Feijoada-Essens gewesen, an dem mehr als hundert Personen teilgenommen hatten. Nicht alle Opfer von Raubüberfällen gingen zur Polizei, und auf die Statistiken konnte man sich nicht verlassen. Wenn jemand Gewalttätigkeiten zum Opfer fiel und
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