Bugschuß
De Vries drehte sich zum Wirt: »Einen Korn, bitte!«
Jande hasste es, wenn jemand ›mein Lieber‹ zu ihm sagte. Er sah Grimm in den Augen seines Gegenübers, das hinzufügte: »Außerdem, mein Freund«, diese Variante mochte Jande ebenso wenig, »außerdem sitze ich jetzt in der Scheiße. Ich habe Aktien gekauft, ein paar zu viel, und die Kurse sind eingebrochen. Bankenkrise wohin man schaut. So ist das, dumm gelaufen. Aber ich muss nicht ewig jammern, um mich immer und immer wieder herauszureden … Ich brauche jetzt die Asche, sofort! Ich habe dir Geld geliehen, jetzt will ich es zurück. Und ich will den gesamten Betrag, das ist recht und billig. Seit Jahren hast du Schulden bei mir. Nichts habe ich wiedergesehen.«
»Ich jammer nicht rum und will mich beileibe nicht rausreden.« Jande fummelte an einem von herabtropfenden Gerstensaft feuchten Bierdeckel herum, er war nervös und sah ein, dass de Vries nicht unrecht hatte, vom Grundsatz her. Aber er hantierte mit falschen Summen. Das machte Jande gleichermaßen hilflos wie wütend.
»Du kriegst das Geld zurück, sobald ich mich ein wenig erholt habe.«
»Willst du mich eigentlich verarschen? Du bist doch im Ruderverein, machst Wanderfahrten. Das gibt’s nicht umsonst, oder? Wenn das geht, dann kannst du auch deine Schulden bezahlen, ansonsten lass es sein! Wie lange willst du dich denn noch erholen? Ein Jahr, zwei Jahre? Nee, mein Lieber, so geht das nicht. Schluss mit dem Affentanz. Du gibst mir nächste Woche das Geld, sonst passiert was!«
»Siebold, das Rudern, hier auf den Kanälen, auf dem Großen Meer, das kostet nicht viel …«
»Nix Siebold … Ich verstehe keinen Spaß mehr, Gernot Jande!« De Vries nannte Vor- und Nachnamen anderer Personen nur dann, wenn er wirklich sauer war. Seine Augen waren ein wenig glasiger geworden, aber den Zorn, der in ihnen für einen Augenblick aufflammte, verbargen sie nicht.
»Es geht nicht. Ich habe keine Ersparnisse mehr. Ich bekomme im Moment bei keiner Bank Kredit, die pfeifen mir was!«
»Leih’ dir woanders was. So wie damals, falls du noch mal so einen Deppen findest wie mich«, de Vries bestellte einen zweiten Klaren und wuppte ihn weg, als wäre es nichts.
»Du bist kein Depp, Siebold. Ich bin dir ewig dankbar …«
De Vries knallte das Schnapsglas auf den Tisch, dass es fast zerbrach. Für eine Sekunde sahen die anderen Gäste der Kneipe zu ihm hinüber, was reichte, damit er nicht losschrie. Mit gepresster Stimme raunte er Jande zu: »Von deiner Dankbarkeit kann ich mir nichts kaufen, gar nichts, Gernot Jande. Ewig dankbar – so ein blöder Spruch. Zum letzten Mal: Freitag in einer Woche. Ansonsten bekommst du einen Schuss vor den Bug, der sich gewaschen hat!«
Jande starrte ihn bestürzt an, er musste sich im Zaum halten, aufgebracht zwischen Wut und Niedergeschlagenheit, als er fast flüsterte: »Siebold, drei Monate, bitte …«
»Du kannst mich mal!« De Vries drehte sich zur anderen Seite und gab dem Wirt ein Zeichen, dass er noch ein Bier wollte.
»Arschloch!«, rutschte es Jande heraus. Blitzschnell drehte sich de Vries um und Jande flog einen halben Meter zurück, als ihm der Schlag ins Gesicht für Sekundenbruchteile das Bewusstsein nahm. Er stürzte rücklings über Stühle und einen Tisch, die hinter ihm standen.
Fast ebenso schnell war der Wirt auf dem Plan: »Siebold, bist du noch zu retten? Sofort aufhören! Du bekommst Hausverbot, für immer, wenn du hier rabiat wirst!« Er hatte de Vries über die Theke hinweg am Kragen gepackt.
»Schon gut, schon gut«, murmelte der, »tut mir leid.« Er drehte sich wieder zur Theke, als sei nichts gewesen.
Zwei der anderen Gäste hatten sich Jande zugewandt, halfen ihm hoch und fragten ihn, ob alles in Ordnung sei. Die Lippe blutete, gleichwohl betonte er: »War ja nichts …«, um auszudrücken, der Schlag von de Vries habe ihn kaum beeindruckt. Sein Blutdruck war in diesem Moment aber so hoch, dass jeder sofort den Notarzt alarmiert hätte, wäre das bekannt gewesen.
»Das war nichts? Ihr seid mir so Experten!«, der Wirt schüttelte den Kopf. Die anderen Gäste, die das Geschehen mit verfolgt hatten, erkannten, dass der Streit zu Ende war. Einige wendeten sich wieder ihren Gesprächspartnern oder dem Kartenspiel zu, andere gafften noch immer zu Jande, dem der Wirt einige Papierhandtücher in die Hand gedrückt hatte, um die Blutung zu stillen.
Jande presste das Papier gegen die Lippe, holte langsam und mit unsicherem Gang seine Jacke
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