Bugschuß
die Ermittlungsarbeit der Polizei anbetraf: Wozu standen in Deutschland an jeder Straßenecke, in öffentlichen Gebäuden, an Bahnsteigen, an Park- und anderen Plätzen, an Hauseingängen und sonst wo Videokameras herum? Die Polizei würde die Bevölkerung um Hilfe bitten. Viele Hinweise würden unbrauchbar sein. Aber der ein oder andere könnte doch lauten: ›Ich habe da einen Mann gesehen …‹ Wie lange würde es dauern, bis sie die richtigen Schlüsse gezogen und ihn identifiziert hätten?
Sollte er versuchen, Rieke zu erreichen? Er schaltete sein Handy ein. In diesem Augenblick hielt der Zug am Bahnsteig. Er bestieg ihn und nahm den erstbesten freien Sitzplatz in Beschlag. Rieke! Alte Liebe rostet nicht, ging es ihm durch den Kopf. Er hatte nie viel von dem Spruch gehalten … Ob die alte Nummer noch stimmte? War er nicht wegen Rieke Griepenhorst in Ostfriesland geblieben? War sie nicht der einzige Lichtblick gewesen, den er in all den Jahren nach der Wende überhaupt gehabt hatte? Ihr Charme? Ihr Witz? Ihr Lachen? Und war es nicht seine Schuld gewesen, dass sie ihn verließ, nach so kurzer Zweisamkeit? Er war nur mehr ein frustrierter, jammernder, ehemaliger Häftling gewesen. Zuerst hatte sie sich wohl sehr zu ihm hingezogen gefühlt. Sie mochte Männer, die nicht immer nur den großen Macker heraushängen ließen. Er war still, manchmal in sich gekehrt. Hatte ihr stückchenweise erzählt, wie alles passiert war. Rieke war jedoch mit der Zeit mehr und mehr auf Distanz gegangen, wollte oder konnte ihn nicht verstehen. Nie würde er das letzte Telefonat vergessen, als sie nur sagte: ›Lass mal, Ralf, es hat keinen Sinn mit uns!‹ Erst später war ihm aufgefallen, dass er nur auf sich geachtet hatte, sie lediglich wahrgenommen hatte als jemanden, der seine Stimmung aufhellte, mit ebendiesem Charme, Witz, einem wundervollen Lachen. Das konnte ja gar nicht gutgehen! Anrufen? Wozu? Diese Episode war abgeschlossen. Auch diese.
»Moin, Moin und die Fahrkarten bitte«, hörte Meinertz aus dem in seinem Rücken liegenden Bereich des Waggons. Scheiße! dachte er. Er hatte völlig vergessen, eine Karte zu lösen. Er warf das Handy in seinen Rucksack und holte sein Portemonnaie heraus.
»Ich muss nachlösen«, sagte er kleinlaut, als der Schaffner seinen Platz erreicht hatte.
»Schwarzfahrer? Das macht 40 Euro und eine Anzeige …«
»Bitte! Ich bin gerade noch so in den Zug gesprungen – ich zahle natürlich nach, von mir aus auch einen Aufschlag.«
Der Schaffner überlegte einen Augenblick. »Dann wollen wir mal nicht so sein. Aber bitte beim nächsten Mal nur mit gültigem Fahrschein den Zug betreten. So steht’s überall geschrieben!«
Meinertz war froh, an einen nicht ganz so scharfen Hund geraten zu sein, zahlte schweigend den eingeforderten Preis und erhielt eine Karte, die sich einrollte, nachdem sie den Minidrucker des Zugbegleiters verlassen hatte.
Meinertz ärgerte sich, so etwas durfte nicht passieren. Tarnen und verstecken – war das nicht die Devise? Er dachte an die Tat zurück. Ob er Stöwers tödlich getroffen hatte? Die alte Korowin war schon ein wenig unberechenbar. Der Schweiß in seinen Augen, diese Anspannung … Nein, er hatte kurz vor die Füße geschossen, da war er sich sicher. Wie im Western, tanzen lassen! Er wollte nicht töten, er wollte, dass Stöwers litt. An der Angst, dem Schrecken. An seiner Vergangenheit. Jetzt, spätestens jetzt musste ihm klar sein, dass er im Visier des Schützen stand. Das reichte, um nicht mehr ohne Angst, und damit unfrei, durch die Welt gehen zu können. Er sollte leiden, und leiden konnte man nur, wenn man lebte.
35
Ralf Meinertz ging gemächlich an der Norddeicher Mole entlang. Er sah die Fähren, die Menschen von den Inseln Juist und Norderney zurück ans Festland brachten. Begeistert schienen sie nicht zu sein, hektisch liefen sie umher, trugen Koffer und Taschen, rannten zu ihren Autos und blafften ihre Kinder und Hunde an, weil die nicht wussten, wo sie in dem Gedränge am besten stehen sollten. Sie alle wären wohl lieber auf den Eilanden geblieben.
Die sich langsam nähernde Zivilstreife konnte er als solche zunächst nicht erkennen.
Meinertz wollte sich an der Fischbude ein Brötchen holen. Das Fahrzeug hatte indes geparkt, zwei Personen stiegen aus. Meinertz erschrak, als er sah, dass der Mann eine Polizeiuniform trug. Die Frau hingegen war unauffällig gekleidet. Sie dürfte wohl auch Polizistin sein, dachte er, und
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