Burgfrieden
die Stufe, die sie noch vom Aufgang zur Galerie trennte, als sie hinter sich eine wohlmodulierte Stimme hörte.
»Ich würde das nicht tun. Wir wollen doch nicht, dass die zarten Knochen beim Sturz in den Abgrund Schaden nehmen.«
Schlagartig wurde Jenny bewusst, wer ihr auf den Fersen war. Aber sie würde sich von der Drohung nicht einschüchtern lassen. Der Weg ins Freie war ihre einzige Chance.
*
Seit drei Wochen stand Günther Baldo, Laienschauspieler und Darsteller des detektivischen Mönchs William von Baskerville, nun schon mehrmals wöchentlich in der Hauptrolle des Stücks »Der Name der Rose« auf der Freilichtbühne der Burg Runkelstein. Zu spät Kommende, die sich mitten in der Eröffnungsszene an ihm vorbei auf die Zuschauertribüne drängten, gehörten dabei ebenso zu seinem abendlichen Schicksal wie jene Eiligen, die mitten unter der Vorstellung wegen eines dringenden Bedürfnisses ihre Plätze verließen – um dann wenige Minuten später zurückzukehren und erneut für Unruhe zu sorgen.
Baldo hasste solche Störenfriede, wusste er doch um die Gefahr, dass sie ihn aus dem Konzept brachten und er sich in seinem Text verhaspelte. Bisher hatte er allerdings der örtlichen Umstände halber die unliebsamen Irritationen gottergeben und weil ihm ohnehin nichts anderes übrigblieb in Kauf genommen. Aber was sich heute abspielte, ging mit Verlaub über die Hutschnur oder besser gesagt über den Zipfel seiner Kapuze. Zuerst das Liebespärchen, das knutschend und kichernd nach Beginn der Vorstellung herein gestolpert war. Dann die aufgeregte Stimme Francesca Rossis, deren spitze Töne mehrmals in seinen tiefschürfenden Dialog mit dem Novizen Adson geradezu kontrapunktisch hineingeschrillt waren und das Publikum zum Lachen gebracht hatten.
Nun auch das noch: Mitten in seinen Disput mit dem Inquisitor und weiteren hochwürdigen Herren, eine der Schlüsselszenen des Stücks, waren vom Burghof her zwei Männer in den nur durch ein paar Spanplatten abgegrenzten Aufführungsbereich gestürzt und direkt vor den Schauspielern genau zwischen Bühne und Zuschauertribüne zum Stehen gekommen. Der größere von beiden sah sich jetzt mit wilden Blicken in alle Richtungen um, während der andere das Geschehen aus halb geschlossenen Augen verfolgte. Aus diesen schien er nun tatsächlich etwas entdeckt zu haben, wie man aus der plötzlichen Erstarrung, die ihn jetzt ergriffen hatte, unschwer ablesen konnte.
William alias Günther Baldo folgte der Blickrichtung des jungen Mannes. Da war es wieder, das Liebespärchen. In der zweiten Reihe hatten sie sich auf dem einzigen noch freien Platz direkt neben dem Aufgang zu den Rängen zusammengekuschelt. Erschrocken und ein wenig schuldbewusst starrten sie nun hoch.
»Bruder William, ich habe Euch etwas gefragt. Hört Ihr nicht?«
O Gott, der Abt. Er musste Baldo schon mehrmals sein Stichwort gegeben haben, bevor er nun sogar extemporierte, um dem Kollegen auf die Sprünge zu helfen. Günther Baldo hatte jedoch keine Ahnung, welche Textstelle als nächstes kam. Jetzt begannen auch die Zuschauer unruhig zu werden. Hatten sie offenbar zunächst noch geglaubt, das Hereinplatzen der beiden jungen Männer in Alltagskleidung sei Teil der Inszenierung, ließ sie der Hänger des Hauptdarstellers nun doch stutzig werden.
Der Abt stand jetzt vor William. Indem er ihn an der Kutte fasste und beutelte, zischte er ihm zu: »Heiliger Franziskus, bewahre deine Kinder vor Dummheiten!« Baldo fing sich wieder. Das war Williams nächster Satz. Er würde einfach weiterspielen und die beiden Eindringlinge ignorieren. Ewig konnten sie ja hier nicht herumstehen.
Mit einem zu sich selbst gemurmelten »Die Schau muss weitergehen« hob er an zu sprechen, als ein Schrei ertönte.
»Lenz, hier ob …!«
Im nächsten Moment war die Frau, die gerufen hatte, verstummt, gerade so, als hätte jemand sie gewaltsam zum Schweigen gebracht. Jetzt drehten sämtliche Zuschauer die Köpfe in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Sogar die Schauspieler blickten gebannt dorthin. Nun hob auch Baldo den Blick. Auf dem gegenüberliegenden Wehrgang, der den Westpalas mit dem Sommerhaus verband, war etwas im Gange. Was, konnte er nicht erkennen, zu sehr blendeten ihn die Scheinwerfer.
»Jenny!« Jetzt löste sich der größere der beiden jungen Männer, die das Geschehen bisher ebenfalls gebannt verfolgt hatten, aus seiner Erstarrung und raste, jeweils zwei Stufen auf einmal nehmend, die Tribüne
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