Burgfrieden
ihr Verdacht, dass sie nicht versehentlich zu Fall gekommen, sondern absichtlich niedergestreckt worden war, stimmte, dann war mit dieser Person sicherlich nicht gut Kirschen essen.
Fakt war: Sie musste hier raus. Da die Falltür unverrückbar in ihrer Verankerung saß, fiel Jenny nur eine Möglichkeit ein: der Geheimgang. Soweit sie sich erinnerte, hatte Arthur berichtet, dass dieser Weg direkt in den Westpalas führte. Ebenerdig befand sich dort der Kassabereich des Museums, und von da führte eine Tür ins Freie. Die vermutlich abgeschlossen sein würde! Beim Gedanken daran sank Jenny wieder der Mut. Trotzdem, sie musste es versuchen. Hier im finsteren Loch zu warten, bis der mutmaßliche Täter wieder zurückkam, war die dümmste aller Lösungen. Irgendwie musste sie es schaffen, zu der Maueröffnung und von dort in die Burg zu gelangen. Wenn sie erst mal das Erdgeschoss erreicht hatte, sah die Welt schon anders aus. Jetzt fiel ihr auch ein, dass sie dort ein Telefon gesehen hatte.
Fest darauf vertrauend, dass es ihr gelingen würde, Hilfe herbeizurufen, ging Jenny in die Knie. Auf allen Vieren kriechend tastete sie sich in die Richtung, wo sie den Aufgang vermutete. Plötzlich stieß sie mit ihrem Fahrradhelm, den sie immer noch trug, auf einen harten Widerstand. Die Gefriertruhe. Rechts daneben musste sich das Mauerloch befinden. Jenny kauerte sich in die Hocke und glitt solange an der Kunststoffverkleidung des Gerätes entlang, bis ihre Hände ins Leere griffen. Die Öffnung, sie hatte sie entdeckt. Wieder ging Jenny auf alle viere. Nicht zum ersten Mal am heutigen Abend bedauerte sie, dass sie einen Rock trug. Kurz und weit schwingend hatte er sich zwar beim Radfahren noch einigermaßen als praktisch erwiesen. Aber je länger sie mit den nackten Knien auf dem staubigen, harten Boden robbte, desto mehr bedauerte sie, dass sie keine Hosen trug. Auch Radhandschuhe wären praktisch gewesen, um ihre mittlerweile schon etwas in Mitleidenschaft gezogenen Handflächen zu schonen. Aber woher hätte sie auch wissen sollen, welches Abenteuer sie heute noch erwartete? Immerhin, wenigstens war sie geistesgegenwärtig genug gewesen, ihren Helm zu schnappen. So war wenigstens ihr Kopf geschützt, sollte sie in der Dunkelheit gegen etwas stoßen. Oder ihr jemand einen Schlag versetzen.
Jenny hielt kurz inne und atmete tief durch. Sie durfte jetzt nicht zimperlich sein. Die Schmerzen waren zwar unangenehm, aber auszuhalten. Stufe um Stufe tastete sie sich weiter nach oben.
*
»Ich, Walther von der Vogelweide, schreibe diese Zeilen im Winter meines Lebens. Aus dem Landsitz, den mir der Kaiser versprochen hat, ist nichts geworden. Da freute ich mich wohl zu früh. Nun aber habe ich bei den Herren der Burg Runkelstein gnädige Aufnahme gefunden. Ich kehre damit dorthin zurück, wo alles begann: in meine Heimat Tirol.«
Dicht über das Manuskript gebeugt las die Gestalt, die im »Saal der Liebespaare« auf der schweren Holzbank vor dem Tisch in der Fensternische Platz genommen hatte, die Zeilen. Wie schon beim Empfang in der Burgschenke spendete eine Öllampe Licht. Es konnte kein Zweifel bestehen: Was da im flackernden Schein offenbart wurde, stammte aus der Feder Walthers. Zu genau stimmten verwendete Begriffe und Sprachduktus mit den bekannten Texten des Dichters überein, als dass es sich um eine Fälschung hätte handeln können.
Neu waren die kurzen Prosakommentare. Doch auch sie waren, wenn man die Werke anderer Dichter betrachtete, keineswegs außergewöhnlich. Entscheidend, ja geradezu revolutionär, war die Verbindung aus beidem: Verse und Prosa. Und damit endlich der so lange gesuchte Beweis für den Zusammenhang zwischen Dichtung und Leben des großen Sängers.
Es war einmalig, es war grandios. Niemals durfte das Pergament wieder verloren gehen. Bibliotheken und Museen auf der ganzen Welt würden sich darum reißen. Und doch …
Das Knarren einer Holztreppe ließ die Gestalt zusammenzucken. War Jenny Sommer etwa aus ihrer Ohnmacht erwacht? Dann war der Schlag mit der Holzlatte, die im Verlies auf dem Boden gelegen hatte, also nicht wirkungsvoll genug gewesen.
Wieder ein Knarren. Frau Doktor war auf dem Weg hierher. Nun, sie würde eben lernen müssen, dass Übermut selten gut tat. Und Neugierde noch weniger. Die Lippen der Person, die über Walthers Handschrift gebeugt saß, verzogen sich. Mit beinahe bedauerndem Lächeln blätterte sie eine Seite um.
*
Ein wenig ratlos blickte
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