Burgfrieden
Keinem ist aufgefallen, dass eine fehlte.«
Daher also der Lichtschein, den Jenny heute vor ihrer Flucht gesehen hatte. Unsinnigerweise fiel ihr jetzt ein, bei der Durchsuchung von Xenias Zimmer hätte sie die Buddha-Öllampe ja entdecken müssen, als ihr Blick auf die Tasche fiel, die der anderen immer noch über ihre Schulter hing. Darin hatte sie den rundlichen Gegenstand also die ganze Zeit mit sich herumgeschleppt. Hätte sie nicht Todesangst gehabt, Jenny hätte wohl losgelacht, so absurd erschien ihr das Ganze. Trotzdem, eine Sache wollte sie noch geklärt haben, vielleicht würde die andere doch noch zur Vernunft kommen.
»Xenia, wenn du die Handschrift schon hattest. Warum bist du heute noch einmal hierhergekommen?« Jenny war wieder stehen geblieben, um Zeit zu gewinnen. Doch Xenia hatte das Manöver bemerkt.
»Schön weitergehen. Wenn du es unbedingt wissen willst: Ich hatte die Handschrift ja noch nicht. Ich konnte sie nicht mit nach draußen nehmen, das wäre zu auffällig gewesen. Die Öllampe, die hätte ich erklären können. Ist mir zu dunkel gewesen auf dem Weg zur Toilette.« Xenias Tonfall ging immer mehr in ein Singen über. »Meine Tasche hatte ich nicht dabei, ein blöder Fehler. Da habe ich das Manuskript hinter der Gefriertruhe versteckt. Dort hat keiner nachgesehen. Und heute bin ich gekommen, um es mir zu holen. Und du, liebe Kollegin, wirst mir dabei helfen.«
Wieder verstärkte sie den Druck auf Jennys Kehle. Die riskierte jetzt einen Blick auf den Zuschauerraum und die Bühne. Alle schienen noch immer in derselben Position wie vor wenigen Minuten zu verharren. Oder war schon mehr Zeit vergangen? Jenny konnte es nicht abschätzen.
»Xenia, gib mir die Handschrift. Ich sage, ich bin an allem schuld. Dann bist du aus dem Schneider.«
Xenia zog sie wieder einen Schritt rückwärts, bevor sie neuerlich dicht an Jennys Ohr sang:
»Das wird leider nicht möglich sein. Denn die Handschrift muss vernichtet werden. Meine ganze Karriere wäre damit zerstört. Meine These war immer, dass Walther keine reale Geliebte besungen hat, sondern das Mädchen seiner Gedichte nur eine Metapher für den Kaiserhof war. Wenn jetzt plötzlich ein Dokument auftaucht, aus dem klar hervorgeht, dass es tatsächlich um die Liebe zu einer Frau ging, dann wäre ich doch auf alle Zeiten blamiert. Keiner würde mich mehr ernst nehmen. Siehst du das nicht ein, Jenny?« Wieder ein Schritt rückwärts, und Xenia beantwortete sich die Frage selbst: »Nein, natürlich nicht, wie könntest du auch? Du hast ja nicht bemerkt, dass Botsch und die Rossi nicht die Lieder Walthers gesungen haben, die wir alle kennen, sondern die neuen aus der Handschrift. Die dürfen niemals ans Licht der Öffentlichkeit gelangen. Wenn doch, dann bin ich als Wissenschaftlerin ein für allemal erledigt. Alles, was ich mir aufgebaut habe, wäre mit einem Schlag vernichtet.«
Drohend knisterte Xenia mit dem Pergament, das sie immer noch in einer Hand hielt. Jenny war nun klar, dass die andere weder das Manuskript freiwillig hergeben noch von ihr ablassen würde. Es nützte nichts, sie musste den Zweikampf riskieren. Allerdings nicht hier oben auf dem Wehrgang, wo die Größere sie mit Leichtigkeit über die zinnenbewehrte Mauer in den Abgrund stoßen konnte. Sich scheinbar in ihr Schicksal fügend ließ Jenny sich von Xenia in Richtung der Treppe ziehen, die zu der Tür führte, aus der sie gekommen waren.
*
Günther Baldo alias William von Baskerville wusste immer noch nicht, ob er hier gerade Zeuge eines Gewaltverbrechens wurde oder doch nur unfreiwilliger Zuschauer einer Posse war, die sich der Regisseur zu Publicityzwecken ausgedacht hatte. Wie alle anderen hatte auch William gebannt das Geschehen auf dem Wehrgang mit verfolgt und zugesehen, wie die beiden Frauen sich langsam, offenbar ganz in ihr Gespräch vertieft, rückwärts bewegt hatten.
Wenn es sich hier um eine Inszenierung handelte, dann sollte man die beiden das nächste Mal wohl besser mit Kopfmikrofonen ausstatten. Der Gedanke war ihm unwillkürlich gekommen, als ein weiteres Ereignis seine Aufmerksamkeit wieder voll in Bann zog: Der Schatten, den er schon zuvor bemerkt hatte, pirschte sich jetzt von hinten an das seltsame Paar heran. Nun konnte er im Mondlicht einen großen, etwas gebeugten Mann sehen. Dahinter stand, wie William erst jetzt bemerkte, noch eine Frau, in der er Francesca Rossi zu erkennen glaubte. Jetzt reichte sie dem Mann einen Gegenstand. Es musste
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