Burgfrieden
ihm!« Der letzte Satz war eher ein empörter Ausruf als eine Frage gewesen. Hatten es ohnehin alle gewusst, nur sie nicht?
Dann hätte doch längst einer darauf kommen müssen, dass niemand anderer als Xenia die Täterin sein konnte. Sie war die Einzige, die vom Verschwinden der Handschrift profitierte. Und der es geschadet hätte, wenn die neuen Lieder ans Licht der Öffentlichkeit gelangt wären.
Denn ihre These, dass es sich bei Walther nämlich um einen skrupellosen politischen Taktierer gehandelt habe, dessen einziges Ziel es war, das Netzwerk der Mächtigen zu stärken, wäre damit ad absurdum geführt worden. Dabei wäre es für eine brillante Wissenschaftlerin wie sie sicher möglich gewesen, alles so zu interpretieren, dass es ihre Theorie nicht gefährdet, sondern sie sogar noch untermauert hätte. Aber Xenia war in ihrem Eifer offenbar blind für das Naheliegende gewesen. Nur: Warum war weder Lenz noch Arthur etwas aufgefallen? Genau das fragte sie jetzt ihr Gegenüber.
Ein wenig betreten, wie ihr schien, rührte Lenz den Schaum in seiner Cappuccinotasse um. Dann sah er zu ihr auf:
»War ich ehrlich gesagt in Gedanken. Hab’ ich gar nicht richtig hingehört.« Der also auch.
Jedenfalls war sie nicht die Einzige, die an dem Abend nicht bei der Sache gewesen war. Vermutlich musste sie dasselbe für Arthur einräumen, wenn sie bedachte, unter welcher Anspannung er von Anfang an wegen Mordred gestanden hatte – auch wenn dieser zu dem Zeitpunkt scheinbar noch friedlich war. Der wiederum und seine beiden Kollegen waren an dem Abend mit gänzlich anderen Dingen beschäftigt gewesen, wie sich kurz danach herausgestellt hatte. Außerdem durfte man bei den Studenten, wenn sie auch noch so begabt waren, keine allzu genauen Kenntnisse voraussetzen. Die Einzigen, die zu dem Zeitpunkt gewusst hatten, dass es sich um die Texte aus der unbekannten Handschrift gehandelt hatte, waren Blasius und Francesca gewesen. Und die wiederum waren über Xenias »verquere Theorie«, wie Jenny diese insgeheim nannte, mit Sicherheit nicht im Bilde.
»Ist die Handschrift also doch nicht verloren.« Lenz’ Bemerkung riss Jenny aus ihren Überlegungen.
»Na ja, wie man es nimmt. Als original werden die Lieder, jetzt, wo das Manuskript vernichtet ist, auf keinen Fall durchgehen.« Jenny betrachtete noch mal ihr Diktiergerät, bevor sie es wieder sorgfältig in ihrer Handtasche verstaute. »Aber ich werde auf jeden Fall mit Arthur darüber reden. Vielleicht hat er ja eine Idee.«
Ihren eigenen Worten nachsinnend sah sie jetzt selbst zum Waltherdenkmal, als sie plötzlich Lenz’ Hand auf der ihren spürte.
»Bleibst du noch ein paar Tage hier. Kannst du in der Villa wohnen. Besorg’ ich dir auch ein gescheites Rad.« Lenz hatte sich über den Tisch näher zu ihr hin gebeugt und sah sie jetzt erwartungsvoll an. Jenny erwiderte seinen Blick. Sie fühlte sich geschmeichelt und sie fand sein Angebot verlockend. Dennoch, es war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt. In Wien warteten Verpflichtungen auf sie, ihre Kunden ließen sich nicht ewig vertrösten. Und die Fahrt bis Salzburg wollte sie nutzen, um mit Arthur über ihre Tonbandaufnahmen zu sprechen. Was Jenny aber am meisten davon abhielt, dem Vorschlag des jungen Mannes einfach zuzustimmen, war etwas anderes: Nach allem, was sie nun über Lenz und seine Vergangenheit wusste, nach allem, was in diesen wenigen Tagen passiert war, fehlte ihr einfach die heitere Gelassenheit, die nötig gewesen wäre, um sich in ein neues Abenteuer zu stürzen. Mit ehrlichem Bedauern, aber dennoch bestimmt schüttelte sie den Kopf:
»Vielleicht ein anderes Mal.« Dann winkte sie den Kellner zum Zahlen herbei. Lenz bedeutete ihr, dass er die Rechnung übernehme, aber Jenny hatte ihre Geldbörse schon gezückt und reichte dem Kellner einen Schein. Als sie diesen herausgenommen hatte, war ein Stück Papier in Form eines ausgeschnittenen Herzens zu Boden gefallen. Lenz hatte es aufgehoben und betrachtete es jetzt:
»Vergeben bedeutet, den Schlüssel des eigenen Gefängnisses zu finden«, las er laut vor. Dann sah er Jenny fragend an.
»Francesca hat mir das am ersten Abend auf der Burg geschenkt. Sie trägt solche selbst gefertigten Zettelchen mit Sprüchen drauf immer bei sich. Und manchmal bei Führungen, wenn sie jemandem begegnet, der ihr sympathisch ist, schenkt sie ihm ein solches Herz. Ich habe auch eines bekommen.« Jenny fühlte sich fast ein wenig verlegen. Vielleicht hielt Lenz sie für
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