Butenschön
schützende Brillenglas vor seinen Augen. »Sie sind jung und wirken nicht wie einer, der sich Ratschläge geben lässt. Wenn ich Ihnen doch einen geben darf: Ein schweres Urteil zu fällen, ist leicht. Ein leichtes, schwer.« Er überlegte, um anschließend den Kopf zu schütteln. »Nein, Herr Koller, kein Rat. Eine Bitte.«
Ruckelnd, wie er angefahren war, kam der Aufzug zum Stehen. Butenschön setzte sich die Brille wieder auf und steckte sein Taschentuch ein. Die zur Seite schwingende Tür gab den Blick auf verdutzte Gesichter frei: auf Rechtsanwalt Brouwer, den Schnapstrinker mit dem Kalbskopf, Frau Butenschön.
»Das trifft sich gut«, rief ich fröhlich und lenkte den Rollstuhl rückwärts aus dem Lift heraus. »Wir waren eben auf dem Weg zu Ihnen!«
Dieses E-Book wurde von der "Verlagsgruppe Weltbild GmbH" generiert. ©2012
Epilog
Viel später erst, bei Butenschöns Beerdigung, sah ich die Deiningers wieder. Es war ein regnerischer Tag im März, mit Böen aus dem Westen, die einem feucht ins Gesicht schlugen. Das Dunkelgrün der Nadelbäume und das Braun der Böden waren die vorherrschenden Farben auf dem Bergfriedhof. Und natürlich das Schwarz der Trauergäste. Sie strömten zur Kapelle, verkeilten sich in den schmalen Wegen, traten einander auf die Füße. Ich erkannte einige, die schon den Festakt im November besucht hatten, Vertreter der Stadt waren da und Typen, denen man den Ordinarius von Weitem ansah. Susanne Rabe war nirgends zu entdecken. Auch Dörte Malewskis roten Haarschopf suchte ich vergebens. Dafür tippte mir jemand beim Marsch zum Grab auf die Schulter.
»Das ist aber toll!«, sagte Michael Deininger freudestrahlend. Seine Hand war noch immer so warm und weich wie vor vier Monaten. Knödelchen, die eher ab- als zugenommen hatte, brachte ein höfliches Lächeln zustande.
»Was machen die Dackel?«, fragte ich.
»Ach, die«, winkte das Bärchen ab. »Wir arbeiten dran.«
Von Butenschöns Sarg sahen wir nichts. Irgendwo da vorne, hinter den vielen Regenschirmen und Hüten und dem Meer in Schwarz, trat ein Jahrhundert seine letzte Reise an, es wurde getrauert und erinnert und gebetet, wir aber glotzten bloß auf Rückenpartien und langweilten uns. Auf den Kondolenzgang zur Witwe verzichteten wir. Als es vorbei war, lud Deininger zu einem Kaffee ein. Am südlichen Ende der Weststadt fanden wir eine Bäckerei mit kleinem Nebenraum. Durch die verregneten Fensterscheiben fiel trübes Licht.
»Da war es ja im November besser«, lachte Deininger. »Sind Sie mit dem Rad da, Herr Koller?«
»Womit sonst?«
»Sie müssten uns mal in Dossenheim besuchen. Ist jetzt richtig schön geworden, unser Heim. Auch der Garten und all das.«
»Was macht Ihre Dissertation?«, fragte ich Evelyn.
Sie sah mich kühl an. »Alles bestens. Nächsten Monat gebe ich ab. Schade, dass Butenschön sie nicht mehr lesen wird.«
»Hat sich Koschaks Russe noch einmal gemeldet?«
»Mehrmals sogar. Mit irgendwelchen Ausreden, von wegen Flugzeug verpasst oder so.« Sie zuckte die Achseln. »Ja, und dann wollte er wieder Geld: für ein neues Ticket. Wir sagten, vorher müssten weitere Dokumente her, da war irgendwann Ruhe. Seit Januar ist der Kontakt tot.«
»Das heißt, er hatte keine weiteren Unterlagen zu verkaufen?«
»Sieht so aus.«
»Das war vielleicht eine Geschichte«, seufzte Deininger behaglich. »Und wie dieser Koschak vermöbelt wurde – unglaublich!«
»Ja, die alten Zeiten«, echote ich. »Sind Sie trotzdem zufrieden mit Ihrer Arbeit, Frau Deininger? Was sagt Ihr Doktorvater?«
»Werden wir sehen.«
Ich nickte verständnisvoll. Werden wir sehen, klar. Ob Knödelchen noch rauchte? Ob sie so manchen Frühlingsnachmittag auf der Bank im Innenhof verbrachte, mit dem Bergfex an ihrer Seite?
»Und Sie, was treiben Sie so?«, wollte Deininger wissen. »Machen Sie ein Buch aus dem Fall Butenschön?«
»Ohne Auflösung? Das kauft doch keiner.«
»Wissen Sie wenigstens, wo diese Romana abgeblieben ist?«
»In ihrer Heimat, hoffe ich.«
»Sehr gut.« Warum grinste Deininger dabei so pennälerhaft? Eine Minute später, seine Frau suchte gerade das Klo auf, folgte die Erklärung.
»Verraten Sie es nicht weiter, Herr Koller«, beugte er sich zu mir herüber, »ich war auch mal bei der Dame.«
»Ach?«
»Ja, ist bestimmt schon zehn Jahre her. Wir machten damals so eine Art Junggesellenausflug nach Heidelberg, verstehen Sie, von Schnakenbach aus in die große Stadt, lauter
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