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Butenschön

Butenschön

Titel: Butenschön Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcus Imbisweiler
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meldete sich ein Knirps am Nebentisch.
    »A oder O?«
    »Hä?«
    »Apfel oder Orange?«, übersetzte sein Vater und warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu. »Außerdem heißt das nicht hä, sondern bitte.«
    »Ich will das Gelbe da.«
    »Das Gelbe, bitte!«
    »Das Gelbe, bitte!«
    Ein kleines, dickes Mädchen wollte Apfelsaft pur. Die Mutter bestand auf Schorle. Das Mädchen sagte nein, die Mutter ja. Das Mädchen fing an zu schreien, die Mutter drohte mit Süßigkeitsentzug, Sandmännchenentzug, Freundebesuchsentzug. Keine Chance.
    »Wenn du nicht sofort aufhörst, gehen wir nach Hause!«
    »Au ja!«
    »Apfelschorle schmeckt super«, mischte ich mich ein. Das Mädchen schaute mich mit so abgrundtiefer Verachtung an, dass mir ganz flau wurde. Jetzt log ich schon wie Frau Butenschön!
    Am Ende wurde es doch Apfelschorle, aber nur gegen Süßigkeiten extra. Das war auch nicht unbedingt konsequent, fand ich.
    »Gummibärchen«, seufzte die Mutter. »Wenn wir zuhause sind.«
    »Nein, jetzt!«
    Mir reichte es, ich schenkte ein und wollte los.
    »Das ist zu wenig Apfelsaft«, monierte die Kleine. »Und zu viel Wasser.«
    »Es ist genau halbe-halbe,« widersprach ich.
    »Richtig«, sagte die Mutter. »Und das trinkst du jetzt.«
    »Dann will ich gar nichts mehr«, plärrte Frau Tochter und schob Teller und Besteck von sich, dass ihr Glas ins Wackeln geriet.
    »Schenken Sie halt noch Saft ein«, sagte die Mutter, die plötzlich ganz grau aussah.
    »Aber es ist wirklich genau gleich viel Wasser und Saft drin.«
    »Verdammt, nun machen Sie schon!«
    Gut, dass ich sämtliche Finger zum Flaschehalten brauchte. Ich hätte den zweien sonst einen Vogel gezeigt. Finger auf Beule. Wenn mir Christine jemals mit einem Kinderwunsch käme, würde ich ihr von dieser Begegnung erzählen.
    »Das sind lauter Monster«, berichtete ich in der Küche. »Lauter kleine, verzogene Monster.«
    »Heul doch«, entgegnete Susanne und drückte mir neue Flaschen in die Hand.
    »Wo bleibt eigentlich der Butenschön?«, fragte Jutta.
    »Der kommt, sobald alle was zu trinken haben. Ab sofort müssen immer zwei von uns zum Nachschenken im Saal stehen. Wir wechseln uns ab, verstanden? Und jetzt, bei der Begrüßung, haben wir alle vier da zu sein.«
    Sie scheuchte uns hinaus. Eine Minute später nahmen wir neben dem Büffet Aufstellung, Hände auf dem Rücken, Brust raus, hübsch abwechselnd Schlips neben Bluse. Ganz natürlich eben. Alles saß und wartete, die Gesprächslautstärke auf ein Minimum gedimmt. Im Hintergrund sah ich die Mutter der kleinen Dicken ein umgefallenes Glas wieder aufrichten.
    Und dann kam ER: der Jubilar. Prof. Albert Butenschön. Zehn mal zehn Lebensjahre überschritten die Schwelle.
    Er kam am Arm seiner Gattin, wacklig, aber aufrecht. Ehrlich gesagt, hatte ich ihn mir größer vorgestellt. Dem Butenschön auf den Fotos von früher ähnelte er kaum noch. Schmal war er geworden, regelrecht ausgezehrt, die Wangen eingefallen, die Haut fleckig. Er lächelte, unverdrossen. Trotzdem sah man deutlich, wie schwer ihm dieses Lächeln, abverlangt von aller Welt, schon jetzt fiel. Er hatte es oben, im ersten Stock aufgesetzt, aber er war ein Greis, es verrutschte ihm mit jedem Schritt, entglitt seiner altersschwachen Muskulatur, hing schief im Gesicht.
    Mochte es schief hängen! Dafür barst seine Frau vor Stolz, schließlich war sie es, die ihn führte, lenkte, herumreichte, ihn, den Nobelpreisträger und Ehrenbürger. Was für ein Paar! Auch Frau Butenschön war eine alte Dame, aber als er zum ersten Mal geheiratet hatte, war sie noch ein kleiner Windelschisser.
    Warmer Applaus füllte den Saal. Wie auf ein Kommando erhoben sich die Gäste. Alle! Selbst die Kinder wurden in die Höhe gezerrt. Wer saß, war ein Verräter. Ich bekam Gänsehaut. Was für ein Theater! Okay, mochten sie es ehrlich meinen, mochte der Alte es verdient haben   –   bei solchen Kollektivhandlungen lief es mir immer kalt den Buckel runter. Muss was mit meinen Kindheitserlebnissen zu tun haben, mit all den vertrackten Ritualen, bei denen ich als Pfarrerssohn gezwungen war mitzuwirken: Schnabel auf beim Abendmahl, Hinknien zur Konfirmation, Aufstehen, Setzen, Singen, Beten. Wenn ich dagegen nicht irgendwann gemeutert hätte, wäre ich nie ein Erwachsener geworden.
    Unter dem Beifall der Anwesenden schritten die Butenschöns zu ihrem Tisch. Ich war froh, dass ich schon stand, froh, dass ich die Hände auf dem Rücken verschränkt halten durfte. Ein Hoch auf das

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