Butenschön
Lakaiendasein! Ich schielte zu Susanne hinüber. Sie verzog keine Miene, nur ihre Lippen waren ein dünner Strich der Verachtung.
Endlich hatten das Geburtstagskind und seine Gattin ihre Plätze erreicht. Ich hätte erwartet, dass Frau Butenschön, die Dirigentin, alsbald die Ovationen abwinkte, doch es geschah nichts dergleichen. Erst als alle wieder saßen und die letzte Hand verstummt war, ergriff sie das Wort. Es folgten die üblichen auswendig gelernten oder längst in Fleisch und Blut übergegangenen Gruß- und Dankesfloskeln, die nur einem Zweck dienten: ihrem Mann den Boden zu bereiten, ihm einen roten Teppich aus Worten auszulegen. Schon gut, dachte jeder, du musst das sagen, weil es die Etikette gebietet, aber du bist nur der Rahmen, das Beiwerk, die Hülle; erst danach kommt das Eigentliche, der Kern, die Essenz. Sprich zu uns, Albert Butenschön!
Und wir alle sahen ihn an, diesen Solitär von Mensch: eine Kindheit im Ersten Weltkrieg, groß geworden in der verachteten Weimarer Republik, Parteigänger Hindenburgs, nicht Hitlers, Mitläufer, Strippenzieher und Profiteur gleich welchen politischen Systems. Ein Mann, der sich von Staatsform zu Staatsform hangelte, dem der Wechsel der Zeitläufte nichts anhaben konnte. 100 Jahre Leben. Viele hätten davon satt werden können.
»Als ich vor Kurzem 90 wurde«, begann Butenschön und räusperte sich, um dem Gelächter seiner Gäste Raum zu geben. Ein gelungener Anfang! Mit brüchiger, aber keineswegs leiser Stimme fuhr er fort: »Als ich 90 wurde, versprach ich euch, es werde meine letzte große Geburtstagsfeier sein. Bitte verzeiht mir, dass ich euch nun schon wieder belästige. Fast könnte man meinen, ich wäre bei meinen Forschungen auf die Formel ewigen Lebens gestoßen. Ich versichere euch, dem ist nicht so. Und ich versichere euch noch etwas: Dies wird wirklich das letzte Mal sein, dass wir uns in so großer Runde sehen. Ihr habt mein Ehrenwort. Für euer Kommen danke ich euch ganz herzlich – euch allen.« Er hob ein Glas und schaute in die Runde. »Auf meine Lieben!« Dann trank er. Ein vielstimmiges Echo antwortete ihm: »Auf dich, Albert!« – »Prosit und weiter so!« – »Auf das Geburtstagskind!« Mit zitternden Knien nahm der alte Mann Platz.
Na, wenn das keinen Applaus wert war! Frau Butenschön musste lange warten, bis sie wieder den Zeremonienmeister spielen durfte. Bedankte sich einmal mehr bei allen Anwesenden, sprach von der großen Ehre, die man ihr und ihrem Mann bereite, und erklärte das Büffet für eröffnet. Nächster Beifallssturm. Der Professor tupfte sich mit einem Stofftaschentuch Mund und Stirn ab. Um seine Augen herum zuckte es.
Nun ging die Schlacht los. Der übliche Run auf Platten und Teller, die übliche Schlangenbildung, die Furcht, nichts mehr abzubekommen, und das finale Erstaunen, dass es doch langte. Alles wie gehabt. Da unterschieden sich die Angehörigen eines Nobelpreisträgers keinen Deut von irgendwelchen Geburtstagsgästen auf dem Land. Sagen wir: in Schnakenbach. Sie kleckerten auch genauso, und der Lachs war als Erstes alle. Erleichterung, als ich eine neue Lage aus der Küche brachte.
»Witzig«, sagte ein schaufelnder Mann, dessen Krawatte der Meerrettichsahne bedrohlich nahe kam. »Sie sehen einem dieser Bestsellerautoren verdammt ähnlich, wussten Sie das?«
»Mit dem werde ich dauernd verwechselt.«
»Hatte der nicht zuletzt eine Lesung in der Stadt?«
»Ja, ich bin hingegangen. Was glauben Sie, wie der Kerl geschaut hat!«
Den Mann schüttelte es vor Lachen. Zum Glück blieb er der Einzige, der mich während des Fests auf meine neue Nebentätigkeit ansprach. Die Mehrzahl der Gäste kam wohl von auswärts.
»Wann startet die Schlüsselaktion?«, zischte ich Susanne zu.
»Nervös, Max?«
»Nicht die Bohne. Du bist doch diejenige, die unbedingt zum Festakt in die Alte Aula will.«
»Immer mit der Ruhe.«
Ruhe war in diesem Zusammenhang das falsche Wort. Kaum hatten die Gäste die Vorspeisen verputzt, bekamen sie Durst. Jutta und ich kämpften uns durch die Reihen um nachzuschenken. Wenn 80 Leute gleichzeitig nach Getränken schreien, kann es gar nicht schnell genug gehen. Immer freundlich und natürlich bleiben, auch wenn sich das widersprach. Während Achim bei den Vorspeisen Wache hielt, kümmerte sich Susanne in der Küche um den Hauptgang.
Zunächst aber gab es Reden. Kürzere Ansprachen und Grußworte, so etwas in der Art. Frau Butenschön saß zerberusmäßig auf
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