BY704 - Der Rächer aus Sing-Sing
konnte sich einen Wagen, ein komfortables Apartment und Freundinnen leisten. Die Girls flogen auf dem kräftigen, untersetzten Mann mit dem Bürstenhaarschnitt. Der nicht mehr neue, aber repräsentative Cadillac tat ein übriges.
Harrys augenblickliche Favoritin hieß Rosie, war blond, niedlich, nichtssagend und himmelte ihn an. Er war nicht gerade von vollendeter Höflichkeit. Manchmal rutschte ihm sogar kräftig die Hand aus. Aber dafür war er großzügig, wenn es um Schmuckstücke und Kleider ging. Seine Anfälle von schlechter Laune, seine Angewohnheit, weit über den Durst zu trinken, sein tierisches Gebrüll, wenn ihm irgend etwas gegen den Strich ging – das alles legte Rosie als Zeichen von Männlichkeit aus.
Sie fand deshalb auch nichts dabei, daß er sie heute kurzerhand mitten in Manhattan auf der Straße absetzte, statt sie nach Hause zu fahren. »Keine Zeit mehr, Baby«, sagte er kurz. »Ich muß zu Hause auf einen Anruf warten.«
»Kann ich nicht mit dir warten, Darling?« flötete Rosie.
»Nein!« Als sie immer noch dasaß und ihn anlächelte, schob er sie ohne viel Federlesens aus dem Wagen. »Nun hau schon ab! Schlaf gut, Baby! Bis morgen!«
Er trat aufs Gaspedal und brauste davon, ohne das blonde Girl noch eines Blickes zu würdigen. Rosie fiel ihm ohnehin langsam auf die Nerven.
Seine Wohnung lag im 11. Stock eines Hochhauses. Er benutzte den Fahrstuhl. Während er nach oben sauste, vergrub er mit vergnügtem Grinsen die Hand in der Innentasche des Jacketts und ließ die Dollarscheine knistern.
Die Gangster des Syndikats hatten ihn gut bezahlt. Aber Harry Schreibers neuer Boß zahlte noch besser.
Zufrieden zog der Killer die Hand wieder aus der Tasche und verließ den Fahrstuhl. Mit federnden Schritten durchquerte er den langen Flur. Sein Apartment war das fünfte auf der rechten Seite. Er nestelte den Schlüssel hervor, drehte ihn im Schloß und stieß die Tür auf.
Durch den billigen Stoff der Fenstervorhänge fiel schwacher Schimmer in den Raum. Harry Schreiber tastete nach dem Lichtschalter. Die Deckenleuchte flammte auf.
»Guten Abend!« sagte eine Stimme.
Harry Schreiber blickte in die Mündung eines großen, altmodischen Colts.
Sekundenlang schwebten seine Hände in der Luft, auf halbem Weg zur Schulterhalfter. Dann begriff er, daß er keine Chance hatte. Langsam krochen seine Hände in die Höhe. Seine Augen starrten ungläubig auf den Mann, der auf dem Sofa saß und mit dem Schießeisen auf seinen Magen zielte. Harry Schreiber kannte ihn: ein spindeldürrer, altersloser Albino mit greisenhaftem Gesicht und Blumenkohlohren. Seine Glieder glichen langen Spinnenbeinen. Die weißlichen wimpernlosen Knopfaugen blinzelten tückisch. Der Bursche sah aus wie eine Karikatur. Aber Harry Schreiber wußte, daß der Albino tödlich gefährlich war.
»Lee Cummings!« flüsterte er heiser.
Der Albino ließ die Coltmündung kreisen und grinste. »Du kennst mich also noch«, fistelte er. »Und ich dachte schon, du hättest deine alten Freunde vergessen.«
Harry Schreiber atmete schwer. Seine Hände waren immer noch zur Decke gestreckt. Schweißperlen standen auf seiner Stirn. »Aber natürlich kenne ich dich noch, Lee«, keuchte er.
»Dann kannst du dir ja auch sicher denken, warum ich hier bin.«
»N-nein. Nicht, daß ich wüßte.«
»Beruflich«, sagte der Dürre knapp.
Dann begann Harry Schreiber zu begreifen. Er wußte, welchen Beruf dieser Mann ausübte, der da zusammengeduckt wie ein giftiges Insekt auf dem Sofa kauerte. Der Beruf hieß Mord. Cummings war ein Killer. Ein Killer, mit dem Harry Schreiber früher sogar zusammen gearbeitet hatte. Ein Killer, dessen artistische Geschicklichkeit unheimlich war und der mit seinem museumsreifen Colt noch nie das Ziel verfehlt hatte.
Harry Schreibers Stimme überschlug sich. Entsetzen flackerte in seinen Augen. Er geriet ins Stottern: »Aber du willst doch nicht… Du kannst doch nicht…«
»Und ob ich kann!« sagte die hohe Fistelstimme des Albinos.
»Aber – aber wir sind doch…«
»… Kollegen!« vollendete der Dürre. »Du hast es genau erfaßt, Harry.« Dann hob er die Hand mit dem schweren Colt. Der Schuß bellte.
Harry Schreiber griff sich mit beiden Händen an die Brust. Er röchelte.
Wie ein Klotz stürzte sein schwerer Körper zu Boden.
Der Albino ließ den Colt in der Tasche verschwinden und kam auf seine dürren Beine. Als er sich neben dem toten Körper auf die Knie niederließ, blitzte ein Messer in seiner
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