Byrne & Balzano 1: Crucifix
taktischen Schießübungen am Schießstand ihr Geschick bewiesen. Aber sie hatte niemals damit gerechnet, dass es eines Tages ihr Haus, ihr Zufluchtsort sein könnte, den sie vor der wahnsinnigen Welt draußen würde beschützen müssen. Dies war der Ort, an dem ihre kleine Tochter spielte. Jetzt war er zum Schlachtfeld geworden.
Als sie die letzte Stufe erreichte, begriff Jessica, was sie tat. Sie ließ Sophie allein dort oben zurück. Hatte sie wirklich das gesamte obere Stockwerk überprüft? Hatte sie überall nachgesehen, jede Gefahr ausgeschlossen?
»Patrick?«, sagte sie mit leiser, kläglicher Stimme.
Keine Antwort.
Kalter Schweiß rann ihr über die Schultern und den Rücken bis zur Taille hinunter.
Jessica versuchte es noch einmal, ein wenig lauter diesmal. Sie traute sich aber nicht, einen zu lauten Ton anzuschlagen, weil sie befürchtete, Sophie zu erschrecken. »Hör zu, Patrick. Ich bin bewaffnet. Ich hab keine Lust, Katz und Maus mit dir zu spielen. Komm her. Wir fahren in die Stadt und klären alles.«
Stille.
Nur der Wind heulte.
Patrick hatte ihre Taschenlampe. Es war die einzige Taschenlampe im Haus, die funktionierte. Die Fensterscheiben vibrierten in den Rahmen und erzeugten einen Laut, der dem leisen Wimmern eines verletzten Tieres ähnelte.
Jessica betrat die Küche. Es dauerte einen Moment, bis ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Sie bewegte sich langsam, mit der linken Schulter zur Wand, die rechte Hand mit der Waffe ins Dunkel gerichtet. Im Ernstfall könnte sie den Rücken an die Wand pressen, ihre Waffe um hundertachtzig Grad herumreißen und auf diese Weise ihren Rücken decken.
In der Küche war nichts.
Bevor Jessica vorsichtig um die Ecke ins Wohnzimmer bog, blieb sie stehen und lauschte dem nächtlichen Getöse. Jammerte da jemand? Schrie jemand? Sophie war es jedenfalls nicht.
Jessica lauschte und versuchte, die Quelle des Geräusches zu orten. Plötzlich verstummte es.
Durch das provisorisch geflickte Loch in der Tür auf der Rückseite des Hauses drang der Duft der feuchten Frühlingserde. Jessica bewegte sich durch die Dunkelheit. Unter ihren Füßen knirschten die Glassplitter, die auf dem Küchenboden lagen. Der Wind verfing sich in den Rändern des schwarzen Plastikbeutels, den sie über das Loch geheftet hatte.
Als sie mit dem Rücken zur Wand ins Wohnzimmer schlich, erinnerte sie sich, dass ihr Laptop auf dem kleinen Schreibtisch stand. Wenn sie sich nicht irrte und das Glück sie heute Nacht nicht ganz verlassen hatte, müssten die Batterien voll sein. Sie tastete sich zum Schreibtisch und klappte den Laptop auf Der Monitor flackerte und warf einen milchig-blauen Schimmer ins Wohnzimmer. Jessica kniff eine Sekunde die Augen zu und öffnete sie dann wieder. Jetzt nahmen die Möbel Gestalt an.
Jessica suchte hinter den Sofas, in der Ecke neben dem Schrank. Sie öffnete den Garderobenschrank neben der Eingangstür.
Nichts.
Sie durchquerte das Zimmer und lief zum Fernsehschrank. Wenn sie sich nicht täuschte, lag in einer der Schubladen Sophies batteriebetriebener Hund, der laufen konnte. Jessica riss die Schublade auf und blickte auf die helle Plastikschnauze.
Ja .
Sie nahm die Duracell-Batterien aus dem Rückenteil des Spielzeugs und ging damit ins Esszimmer. Dort schob sie die Batterien in die Taschenlampe und schaltete sie ein.
»Patrick. Das ist kein Spiel. Antworte mir.«
Doch Jessica rechnete nicht mit einer Antwort und bekam auch keine.
Sie atmete tief durch, nahm all ihren Mut zusammen und stieg Stufe für Stufe die Treppe in den Keller hinunter. Es war stockdunkel. Patrick hatte die Taschenlampe ausgeschaltet. Mitten auf der Treppe blieb Jessica stehen und ließ den Lichtstrahl ihrer Lampe durch den Keller kreisen – die Waffe schussbereit in der anderen Hand. Alle Gegenstände, denen in der Regel nichts Bedrohliches anhaftete – die Waschmaschine und der Trockner, der Abfluss, der Heizkessel, der Wasserenthärter, die Golfschläger, die Gartenmöbel –, das alles warf nun lange Schatten und wirkte düster und bedrohlich.
Alle Dinge standen da, wo sie hingehörten. Nur Patrick war verschwunden.
Jessica stieg die nächsten Stufen hinunter. Rechter Hand war eine Nische, in der der Sicherungskasten und der Telefonverteiler hingen. Sie leuchtete die Nische aus und sah etwas, das ihr den Atem nahm.
Der Telefonverteiler.
Nicht der Sturm hatte die Leitung zerstört.
Die Kabel waren aus dem Kasten herausgerissen worden.
Langsam
Weitere Kostenlose Bücher