Byrne & Balzano 3: Lunatic
Wohnzimmer abging – runder Mahagonitisch, zwei Stühle, Sideboard, Wandteppiche. In allen vier Ecken brannten Kerzen. Byrne wandte Natalya wieder den Blick zu. Sie musterte ihn.
»Wissen Sie, was Chiromantie ist?«, fragte Natalya.
»Nein.«
»Handleserei. Eine alte Kunst, bei der die Linien und Besonderheiten der Hand analysiert werden.«
»Damit kenne ich mich nicht aus«, sagte Byrne.
»Ihnen hat noch nie jemand aus der Hand gelesen?«
»Nein«, sagte Byrne. »Noch nie.«
Natalya nahm seine Hand. Byrne spürte sofort einen leichten elektrischen Schlag. Nicht unbedingt eine erotische Anziehung, obwohl er nicht leugnen konnte, dass auch dies eine Rolle spielte.
Natalya schloss kurz die Augen und öffnete sie wieder. »Sie haben hellseherische Fähigkeiten.«
»Hm.«
»Manchmal wissen Sie Dinge, die Sie gar nicht wissen können. Dinge, die andere nicht sehen. Dinge, die sich als wahr herausstellen.«
Byrne hätte am liebsten seine Hand weggezogen und so schnell wie möglich das Weite gesucht, doch aus irgendeinem Grund konnte er sich nicht bewegen. »Manchmal.«
»Sie wurden mit einem Schleier geboren?«
»Einem Schleier? Tut mir leid, aber davon verstehe ich nichts.«
»Sie sind dem Tod knapp entronnen?«
Byrne kam das alles ein wenig unheimlich vor, doch er ließ sich nichts anmerken. »Ja.«
»Zweimal.«
»Ja.«
Natalya ließ Byrnes Hand los und schaute ihm tief in die Augen. Byrne kam es so vor, als hätten ihre hellgrauen Augen plötzlich einen leuchtend schwarzen Farbton angenommen.
»Die weiße Blume«, sagte sie.
»Wie bitte?«
»Die weiße Blume, Detective Byrne«, wiederholte sie. »Schießen Sie!«
Jetzt war ihm wirklich unheimlich zumute.
Byrne steckte den Notizblock ein und knöpfte seinen Mantel zu. Im ersten Augenblick wollte er Natalya die Hand geben, entschied sich dann aber dagegen. »Es tut uns sehr leid, was mit Ihrer Schwester passiert ist«, sagte er. »Wir melden uns wieder bei Ihnen.«
Natalya öffnete die Tür. Ein eisiger Wind schlug Byrne entgegen. Als er die Treppe hinunterstieg, fühlte er sich körperlich erschöpft.
Schießen Sie! Was, zum Teufel, hatte das zu bedeuten?
Als Byrne zum Wagen kam, warf er noch einen Blick auf das Haus. Die Eingangstür war verschlossen, doch hinter jedem Fenster brannte jetzt eine Kerze.
Hatten die Kerzen schon dort gestanden, als sie hierhergekommen waren?
9.
K ristina Jakos’ neue Wohnung war kein Apartment, sondern ein kleines Stadthaus in North Lawrence. Als Jessica und Byrne sich dem Gebäude näherten, stand eines sofort fest: Keine junge Frau, die als Empfangsdame arbeitete, konnte sich die Miete leisten – oder auch nur die Hälfte davon, falls Kristina das Haus mit jemandem teilte.
Sie klopften, klingelten. Zweimal. Nichts tat sich. Sie warteten, schirmten die Augen ab, spähten durch die Fenster. Hauchdünne Vorhänge. Es war nichts zu sehen. Byrne klingelte noch einmal, ehe er den Schlüssel ins Schloss steckte und die Tür öffnete.
»Polizei!«, rief er.
Keine Antwort.
Sie traten ein.
Das Haus machte von außen einen sehr gepflegten Eindruck, und es war auch exklusiv ausgestattet: Hartholzböden, Einbauschränke aus Ahorn in der Küche, Messingarmaturen. Keine Möbel.
»Ich glaube, ich werde mich auch nach einem Job als Empfangsdame umsehen«, sagte Jessica.
»Ich auch«, meinte Byrne.
»Kannst du denn eine Telefonzentrale bedienen?«
»Das werde ich schon lernen.«
Jessica strich mit der Hand über die Holzvertäfelung. »Was meinst du? Reiche Mitbewohnerin oder alter Sack, der sie aushält?«
»Ist beides gut möglich.«
»Vielleicht ein verrückter, eifersüchtiger, psychopathischer alter Sack?«
» Sehr gut möglich.«
Sie riefen noch einmal: »Polizei!« Es schien niemand da zu sein. Sie durchsuchten das Erdgeschoss, wo eine Waschmaschine und ein Trockner in Kartons standen und darauf warteten, angeschlossen zu werden. Sie überprüften den ersten Stock. In einem Schlafzimmer stand ein aufgerollter Futon; in dem anderen sahen sie ein Raumsparbett in einer Ecke. Daneben eine Truhe.
Jessica kehrte in die Diele zurück und hob den Stapel Post auf, der vor der Tür lag. Sie blätterte den Stapel durch. Eine der Rechnungen war an Sonja Kedrowa gerichtet. Zwei Zeitschriften waren an Kristina Jakos adressiert – Tanz und Architectural Digest . Keine privaten Briefe oder Postkarten.
Sie betraten die Küche und öffneten ein paar Schubladen. Die meisten waren leer. Ebenso die Schränke, die auf dem
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