Byrne & Balzano 3: Lunatic
klarer, aber bitterkalter Abend gewesen, der Himmel ein konturloses schwarzes Gemälde über der Stadt.
Moon hatte die junge Frau beobachtet, wie sie dann mit der Wäschetasche über der Schulter durch die beschlagene Glastür aus dem Waschsalon hinaus auf den Bürgersteig getreten war. Sie überquerte die Straße, ging zur Bushaltestelle, blieb stehen und trat mit den Füßen auf, weil es so eisig kalt war. Niemals war sie hübscher gewesen. Als sie sich zu ihm umgedreht hatte, da hatte sie es gewusst, und Moon hatte seine Zauberkraft spüren können.
Als Moon jetzt am Ufer des Schuylkill River steht, spürt er diese Kraft erneut.
Er schaut auf das dunkle Wasser. Philadelphia ist eine Stadt mit zwei Flüssen, und in beiden schlägt dasselbe Herz: Der Delaware River ist muskulös, breitschultrig, zuverlässig. Der Schuylkill ist listig, verschlagen und tückisch. Er ist der verborgene Fluss. Sein Fluss.
Genauso wie die Stadt hat auch Moon viele Gesichter. In den nächsten zwei Wochen jedoch wird er unsichtbar bleiben, weil es nicht anders geht. In den nächsten zwei Wochen wird er mit der Umgebung verschmelzen – einer von unzähligen trüben Flecken auf einem tristen grauen Wintergemälde.
Moon legt das tote Mädchen vorsichtig ans Ufer des Schuylkill. Er küsst ein letztes Mal ihre kalten Lippen. Auch wenn sie noch so hübsch ist – sie ist nicht seine Prinzessin.
Er wird seine Prinzessin bald treffen.
Weil das Märchen nun mal so geht.
Er ist Moon. Und seine Prinzessin heißt Karen.
2.
D ie Stadt hat sich verändert. Er war zwar nur eine Woche fort gewesen und hatte keine Wunder erwartet, doch nach mehr als zwanzig Jahren bei der Polizei in einer Stadt wie dieser, einer Stadt mit einer der höchsten Verbrechensraten des Landes, blieb immer noch die Hoffnung auf Besserung. Auf dem Weg in die Stadt hatte er zwei Unfälle und drei Schlägereien vor drei verschiedenen Kneipen gesehen. Gar nicht zu denken daran, was hinter manchen verschlossenen Türen vor sich ging.
Aaah, Urlaubszeit in Philly. Das wärmt einem das Herz.
Detective Kevin Francis Byrne saß am Tresen des Crystal Diner, eines kleinen, sauberen Coffee Shops in der Achtzehnten Straße. Seitdem das Silk City Diner geschlossen hatte, ging er spät abends am liebsten ins Crystal Diner. Aus den Lautsprecher erklang Silver Bells . Die bunten Lichter in den Straßen kündeten von Weihnachten, dem Fest der Liebe.
Friede, Freude, Eierkuchen.
Kevin Byrne brauchte etwas zu essen, eine heiße Dusche und Schlaf. Morgen früh um acht Uhr begann sein Dienst.
Auch Gretchen war da. Sie drehte Byrnes Tasse um und goss ihm Kaffee ein. Gretchen Wilde kochte vielleicht nicht den besten Kaffee in der Stadt, aber niemand sah besser aus, wenn er ihn eingoss. Ihr Parfum turnte unglaublich an, und ihre dunkelroten Lippen waren sexy. Gretchen war jetzt Mitte dreißig und viel attraktiver geworden, als sie es früher gewesen war, nachdem ihre jugendliche Schönheit fraulichere, weichere Züge angenommen hatte.
»Lange nicht gesehen«, sagte sie.
»Bin heute erst zurückgekommen«, erwiderte Byrne. »Ich hab eine Woche Urlaub in den Poconos gemacht.«
»War sicher schön.«
»Ja«, sagte Byrne. »Nur dass ich in den ersten drei Tagen nicht schlafen konnte. Es war so verdammt ruhig.«
Gretchen schüttelte den Kopf. »Städter.«
»Städter? Ich?« Byrne betrachtete sich auf der dunklen Fensterscheibe: Sieben-Tage-Bart, LL-Bean-Jackett, Flanellhemd, Timberland-Stiefel. »Ich dachte, ich sehe aus wie Lederstrumpf.«
»Du siehst aus wie ein Städter, der einen auf Lederstrumpf macht «, sagte Gretchen.
»Wie geht es Brittany?«, fragte Byrne.
Gretchens Tochter Brittany war fünfzehn, sah aber aus wie fünfundzwanzig. Vor einem Jahr war sie bei einer Razzia auf einer Party mit so viel Ecstasy erwischt worden, dass es für eine Klage wegen Drogenhandels gereicht hatte. In jener Nacht hatte Gretchen in ihrer Verzweiflung Byrne angerufen, worauf Byrne sich an einen Kollegen gewandt hatte, der ihm einen Gefallen schuldete. Als der Fall dann vor Gericht kam, lautete die Anklage nur noch auf einfachen Drogenbesitz, und Brittany wurde zu sozialem Dienst verdonnert.
»Ich glaube, es geht ihr gut«, sagte Gretchen. »In der Schule läuft es besser, und sie kommt auch nicht mehr mitten in der Nacht nach Hause. Jedenfalls unter der Woche.«
Gretchen war zweimal verheiratet gewesen, und sie war zweimal geschieden. Ihre beiden Ex-Männer waren gewalttätige Loser, denen die
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