Byrne & Balzano 3: Lunatic
das eine große Stadt zu bieten hatte, versöhnte er sich jeden Tag um Mitternacht mit der Welt und fiel in einen tiefen Schlaf.
Jessica hatte das nie vermocht.
Sie konnte nicht schlafen – und sie wusste, warum. Das hatte zwei Gründe. Erstens ging ihr das Bild aus der Geschichte, die Pastor Greg ihr erzählt hatte, nicht aus dem Kopf: Ein Mann, der von der Sonnenjungfrau und einer Hexe in zwei Stücke gerissen wird ...
Danke, Pastor Greg.
Im Wettstreit mit diesem Bild stand der nicht minder grässliche Anblick der toten Kristina Jakos, die am Flussufer saß wie eine kaputte Puppe auf dem Regal eines kleinen Mädchens.
Zwanzig Minuten später saß Jessica am Esstisch, einen Becher Kakao vor sich. Sie wusste, dass Schokolade Koffein enthielt, und das würde sie bestimmt noch ein paar Stunden länger wach halten. Sie wusste aber auch, dass Schokolade Schokolade enthielt.
Jessica verteilte Kristina Jakos’ Tatortfotos auf dem Tisch und sortierte sie: Fotos der Straße, der Zufahrt, der Fassade des Gebäudes, der abgestellten Wagen, der Rückseite des Gebäudes, der abfallenden Böschung und schließlich die Aufnahmen der armen Kristina selbst. Jessica betrachtete die Fotos aus der Sicht des Killers, der sich dem Fundort näherte, und folgte seinen Schritten.
War es dunkel gewesen, als er den Leichnam dort abgelegt hatte? Es musste dunkel gewesen sein. Da der Mann, der Kristina getötet hatte, nach der Tat keinen Selbstmord begangen oder sich gestellt hatte, hoffte er logischerweise, mit seinem grauenhaften Verbrechen davonzukommen.
Hatte er einen SUV benutzt? Einen Pick-up? Einen Van? Mit einem Van wäre es für ihn sicher am einfachsten gewesen.
Aber warum gerade Kristina? Und warum das sonderbare Kleid und die Verstümmelung? Warum der »Mond« auf ihrem Unterleib?
Jessica schaute durch das Fenster in die schwarze Nacht.
Was ist das für ein Leben?, fragte sie sich. Ihre süße kleine Tochter und ihr Ehemann schliefen keine fünf Meter von ihr entfernt, und sie schaute sich mitten in der Nacht die Fotos einer toten, verstümmelten Frau an.
Doch wenn sie den Mord aufklären wollten, kamen sie nicht umhin, sich dem Grauen zu stellen.
Trotz all der Gefahren und der hässlichen Dinge, mit denen Jessica konfrontiert wurde, konnte sie sich nicht vorstellen, etwas anderes zu tun. Seit ihrem Eintritt in die Polizeiakademie hatte sie den Wunsch gehabt, bei der Mordkommission zu arbeiten. Jetzt war sie da. Doch der Job fraß einen bei lebendigem Leibe auf, sobald man das Erdgeschoss des Roundhouse betrat.
Wenn man bei der Mordkommission am Montag einen neuen Fall bekam, begann man mit den Ermittlungen, suchte Zeugen, verhörte Verdächtige und trug die Ergebnisse der Kriminaltechnik zusammen. Man machte erste Fortschritte – und schon war Donnerstag, und man war bereits zum nächsten Tatort unterwegs. Man stand ständig unter Strom, musste immerzu Gas geben, denn wenn man binnen achtundvierzig Stunden keine Verhaftung vornahm, bestand die Gefahr, dass es niemals zu einer Festnahme kam. So lautete jedenfalls die Theorie. Darum ließ man alles stehen und liegen, während man noch immer mit einem Ohr auf ausstehende Anrufe wartete, und ermittelte in dem neuen Fall. Und ehe man sich versah, war Dienstag, und man hatte den nächsten Mordfall auf dem Schreibtisch liegen.
Wenn man seinen Lebensunterhalt als Ermittler in Mordfällen verdiente – ob polizeilicher oder privater Ermittler –, lebte man dafür, einen Killer zu schnappen. Für Jessica und alle Detectives, die sie kannte, begleitete dieses Verlangen den Sonnenaufgang, den ganzen Tag, den Sonnenuntergang. Manchmal begleitete es sogar die Mahlzeiten, den Schlaf und den leidenschaftlichen Kuss. Nur ein Ermittler konnte dieses übermächtige Verlangen eines Ermittlers begreifen. Wenn Junkies eine Sekunde lang in die Haut eines Detectives hätten schlüpfen können, hätten sie die Nadel für immer weggeworfen. Keine Euphorie der Welt konnte das Gefühl toppen, einen Killer gefasst zu haben.
Jessica legte eine Hand um den Becher. Der Kakao war kalt.
Sie schaute wieder auf die Fotos.
Verbarg sich der Schlüssel zur Identifizierung des Täters auf einem dieser Bilder?
22.
W alt Brigham fuhr auf dem Lincoln Drive an den Seitenstreifen, stellte den Motor ab und schaltete die Scheinwerfer aus. Er war noch immer ein wenig benommen von der Abschiedsparty im Finnigan’s Wake, noch immer gerührt, dass so viele Kumpels gekommen waren.
In diesem Bereich des
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