Byrne & Balzano 3: Lunatic
und mit Leuten gesprochen. Die Spur zu Annemaries und Charlottes Mörder führte nach Odense, Pennsylvania. Als Brigham das Dorf durchquert hatte, konnte er das Böse wie einen abscheulich bitteren Trank auf der Zunge schmecken.
Brigham stieg aus, überquerte den Lincoln Drive und ging durch den entlaubten Wald, bis er das Ufer des Wissahickon Creek erreichte. Hier heulte ein kalter Wind. Brigham schlug den Kragen hoch und zog sich den Wollschal fest um den Hals.
Hier waren sie gefunden worden.
»Ich bin wieder da, Mädchen«, sagte er.
Brigham hob den Blick zum Himmel und schaute auf den kalten Mond in der Dunkelheit. Die nackte Wut, die er in jener Nacht vor so langer Zeit gespürt hatte, kroch wieder in ihm hoch. Er sah ihre weißen Kleidchen im Licht der Schweinwerfer. Er sah die ausdruckslosen Augen in den traurigen Gesichtern.
»Ich wollte euch nur sagen, dass ihr mich jetzt ganz habt«, sagte er. »Rund um die Uhr. Vierundzwanzig Stunden, sieben Tage die Woche. Wir kriegen ihn.«
Er schaute eine Zeitlang auf das Wasser und kehrte dann zu seinem Wagen zurück. Jetzt war sein Gang beschwingt, als wäre ihm eine schwere Last von den Schultern genommen und als läge der Rest seines Lebens plötzlich klar und deutlich vor ihm.
Walt stieg ein, ließ den Motor an und stellte die Heizung hoch. Er wollte gerade auf den Lincoln Drive auffahren, als er es hörte ...
Gesang?
Nein.
Es war kein Gesang. Es war eher ein Kinderreim. Ein Kinderreim, den er sehr gut kannte. Das Blut gefror ihm in den Adern.
»Kleine Mädchen, hübsch und fein,
tanzen einen Ringelreih’n ...
Brigham blickte in den Innenspiegel. Als er die Augen des Mannes auf der Rückbank sah, wusste er es. Das war der Mann, den er seit langer Zeit suchte.
»Wie zwei Kreisel, summ, summ, summ ...«
Nackte Angst stieg in Brigham hoch. Seine Waffe lag unter dem Sitz. Er hatte zu viel getrunken. Er würde es niemals schaffen.
»Dreh’n sie sich im Kreis herum.«
In den letzten Augenblicken seines Lebens wurde Detective Walter James Brigham vieles klar. Wie in den Sekunden vor einem Unwetter sah er alles glasklar vor Augen. Er wusste, dass Marjorie Morrison tatsächlich die Liebe seines Lebens war. Er wusste, dass sein Vater ein guter Mann gewesen war, der seine Kinder zu anständigen Menschen erzogen hatte. Er wusste, dass das abgrundtief Böse Annemarie DiCillo und Charlotte Waite heimgesucht hatte, dass sie in den Wald verfolgt und dem Grauen ausgeliefert hatte.
Und Walt Brigham wusste auch, dass er auf der ganzen Linie recht gehabt hatte.
Es hatte immer mit dem Fluss zu tun gehabt.
23.
D as Health Harbor war ein kleines Fitnesscenter in Northern Liberties. Es stand unter der Leitung eines ehemaligen Polizeisergeanten vom vierundzwanzigsten Revier und nahm nur eine begrenzte Mitgliederzahl auf, größtenteils Cops. Das bedeutete, dass man sich im Health Harbor nicht mit den üblichen Trainingsprogrammen aufhalten musste. Außerdem gab es einen Boxring.
Jessica war gegen sechs Uhr da, machte ihre Dehnübungen und lief fünf Meilen auf dem Laufband, während sie sich weihnachtliche Musik auf ihrem iPod anhörte.
Um sieben Uhr kam ihr Onkel. Vittorio Giovanni war einundachtzig Jahre alt, hatte aber noch immer die klaren braunen Augen, an die Jessica sich aus ihrer Jugend erinnerte. Diese sanften, wissenden Augen hatten Vittorios verstorbene Gattin Carmella vor langer, langer Zeit verzaubert, an einem milden Maiabend. Sogar heute noch bewiesen diese strahlenden Augen, dass ein viel jüngerer Mann in ihm steckte. Vittorio war einst Profiboxer gewesen. Bis heute konnte er im Fernsehen keinen Boxkampf im Sitzen verfolgen.
Vittorio war seit ein paar Jahren Jessicas Manager und Trainer. Jessica hatte von fünf Profikämpfen noch keinen verloren. Vier hatte sie durch Knockout gewonnen; ihr letzter Kampf war sogar von einem lokalen Fernsehsender live übertragen worden. Vittorio hatte immer gesagt, dass er Jessicas Entscheidung, den Boxsport an den Nagel zu hängen, jederzeit akzeptieren und dann gemeinsam mit ihr aufhören würde. Doch Jessica war sich noch nicht schlüssig. In erster Linie hatte sie mit dem Sport begonnen, um nach Sophies Geburt abzunehmen. Außerdem wollte sie in Form bleiben, um sich gegen gewalttätige Verdächtige verteidigen zu können, mit denen sie es gelegentlich zu tun bekam.
Vittorio nahm die Schlagpolster und schlüpfte langsam zwischen den Seilen hindurch. »Hast du dein Lauftraining gemacht?«, fragte er. Er
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