Byrne & Balzano 3: Lunatic
Und sie war nicht der Typ, der einfach ...«
Jetzt kamen die Tränen. Jessica und Byrne ließen Natalya einen Augenblick Zeit. Als sie sich wieder gefasst hatte, setzten sie die Vernehmung fort.
»Wo hat Kristina gearbeitet?«, fragte Byrne.
»Ich weiß es nicht genau. Sie hatte einen neuen Job. Als ... als Empfangsdame.«
Jessica fiel auf, dass Natalya das Wort »Empfangsdame« mit einer sonderbaren Betonung aussprach. Auch Byrne entging es nicht.
»Hatte Kristina einen Freund? Jemanden, mit dem sie sich regelmäßig traf?«
Natalya schüttelte den Kopf. »Nichts Festes, soviel ich weiß. Aber es waren immer Männer um sie herum. Schon als sie klein war. In der Schule, in der Kirche. Immer.«
»Gibt es einen Ex-Freund? Jemanden, der sie vielleicht immer noch liebt?«
»Es gibt da jemanden, aber er wohnt nicht mehr hier.«
»Wo wohnt er jetzt?«
»Er ist zurück in die Ukraine gegangen.«
»Hatte Kristina besondere Interessen? Hobbys?«
»Sie wollte unbedingt Tänzerin sein. Das war ihr Traum. Kristina hatte viele Träume.«
Tänzerin, dachte Jessica. Das Bild der Frau mit den amputierten Füßen blitzte grell vor ihren Augen auf. Sie riss sich zusammen und fuhr fort: »Was ist mit Ihren Eltern?«
»Die sind schon lange tot.«
»Haben Sie noch mehr Geschwister?«
»Einen Bruder. Er heißt Kostya.«
»Wo wohnt er?«
Natalya verzog das Gesicht und winkte ab, als wollte sie eine böse Erinnerung verscheuchen. »Er ist tvaryna .«
Jessica wartete auf eine Übersetzung, doch sie kam nicht. »Bitte?«
»Ein Tier. Kostya ist ein wildes Tier. Er ist da, wo er hingehört.«
Byrne und Jessica wechselten einen Blick. Diese Neuigkeit eröffnete ganz neue Perspektiven. Vielleicht hatte jemand Kostya Jakos einen Denkzettel verpassen wollen, indem er seine Schwester umgebracht hatte.
»Darf ich fragen, wo er einsitzt?«, fragte Jessica.
»Graterford.«
Jessica war drauf und dran zu fragen, warum Kostya im Gefängnis saß, doch diese Informationen konnte sie dem Vorstrafenregister entnehmen. Es war nicht nötig, das Messer so kurz nach einer weiteren Tragödie in die Wunde der Frau zu stecken. Jessica machte sich eine Notiz, sich nach Kostyas Verbrechen zu erkundigen.
»Fällt Ihnen jemand ein, der sich möglicherweise an Ihrem Bruder rächen wollte?«, fragte sie dann.
Natalya lachte freudlos. »Ich kenne niemanden , der Kostya nicht am liebsten den Hals umdrehen würde.«
»Haben Sie ein neueres Foto von Kristina?«
Natalya griff auf das oberste Brett eines Bücherregals und nahm eine Holzkiste herunter, wühlte einen Augenblick darin herum und zog dann ein Foto von Kristina heraus. Es sah wie die Porträtaufnahme einer Modelagentur aus – ein wenig unscharf, in aufreizender Pose, die Lippen leicht geöffnet. Eine sehr hübsche Frau, dachte Jessica auch jetzt, als sie das Foto betrachtete. Vielleicht nicht so umwerfend schön wie ein Fotomodell, aber ausgesprochen attraktiv.
»Könnten wir uns das Bild ausleihen?«, fragte Jessica. »Wir geben es Ihnen später zurück.«
»Das ist nicht nötig«, sagte Natalya.
Jessica nahm sich vor, ihr das Foto dennoch zurückzugeben. Sie wusste aus eigener Erfahrung, dass der Kummer irgendwann hervorbrach, auch wenn er zuerst unter der Oberfläche verborgen blieb.
Natalya stand auf und griff in eine Schreibtischschublade. »Wie ich Ihnen schon sagte, ist Kristina in eine andere Wohnung gezogen. Hier ist ein Zweitschlüssel. Vielleicht hilft Ihnen das weiter.«
An dem Schlüssel hing ein weißes Schild mit einer Adresse. Jessica warf einen Blick darauf: Kristina hatte in North Lawrence gewohnt.
Byrne zog eine Visitenkarte aus der Tasche und reichte sie Natalya. »Falls Ihnen noch etwas einfällt, rufen Sie uns bitte an.«
Natalya nahm die Karte entgegen und reichte Byrne dann ihre eigene Visitenkarte. Es geschah so plötzlich, als hätte sie die Karte aus der Hand gezaubert. Und das war gar nicht so abwegig, stellte Jessica fest, als sie auf die Karte spähte. Da stand:
Madame Natalya: Wahrsagerin – Kartenlegen, Tarot.
»Ich glaube, in Ihnen ist sehr viel Traurigkeit«, sagte Natalya zu Byrne. »Viele ungelöste Probleme.«
Jessica warf Byrne einen Blick zu. Er sah ein wenig verunsichert aus, was äußerst selten vorkam. Sie spürte, dass ihr Partner das Verhör alleine fortsetzen wollte.
»Ich hole den Wagen«, sagte sie.
Einen Augenblick standen Natalya und Byrne schweigend in dem viel zu warmen Wohnzimmer. Byrne spähte in einen kleinen Raum, der vom
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