Byrne & Balzano 3: Lunatic
doch das hatte sie nie von irgendetwas abgehalten oder hätte sie jemals bremsen können. Sie war eine erstklassige Studentin und hervorragende Sportlerin. Byrne fragte sich, was für Träume sie hatte. Als sie klein war, wollte sie in die Fußstapfen ihres Vaters treten und Polizistin werden. Das hatte er ihr schnell ausgeredet. Dann kam die obligatorische Phase der Balletttänzerin, die ausgelöst wurde, als er mit Colleen eine Aufführung der Nussknackersuite für Hörgeschädigte besucht hatte. In den letzten Jahren hatte Colleen häufiger davon gesprochen, Lehrerin zu werden. Hatten ihre Pläne sich geändert? Wie lange hatte er nicht mehr mit ihr darüber gesprochen? Er nahm sich vor, es bald nachzuholen. Colleen würde natürlich die Augen verdrehen und ihm in ihrer Gebärdensprache sagen, er sei sonderbar. Er würde es trotzdem tun.
Byrne fragte sich, ob Kristinas Vater seine kleine Tochter jemals nach ihren Träumen gefragt hatte.
Byrne fand eine Parklücke und fuhr hinein. Er schloss den Wagen ab, betrat das Haus und schleppte sich die Treppe hinauf. Entweder wurde er älter, oder die Treppe wurde steiler.
Letzteres, sagte er sich.
Er war noch im besten Mannesalter.
Auf dem freien Grundstück auf der anderen Straßenseite stand ein Mann und beobachtete Byrne. Er sah, dass das Licht in der Wohnung des Detectives im ersten Stock aufflammte, und betrachtete Byrnes großen Schatten durch die Ritzen der Jalousien. Aus seiner Perspektive sah er einen Mann, der in ein Leben zurückkehrte, das dasselbe war wie am gestrigen Tag und am Tag davor. Ein Mann, in dessen Leben es einen Sinn gab, Inhalte und Ziele.
Er beneidete Byrne ebenso sehr, wie er ihn hasste.
Der Mann war schlank, mit schmalen Händen und Füßen und braunem Haar, das schon ein wenig licht wurde. Er trug einen dunklen Mantel und war in jeder Beziehung ein ganz normaler Mann, abgesehen vom Dauerzustand des Schmerzes und einer ebenso unerwarteten wie ungewollten tiefen Traurigkeit, die er niemals für möglich gehalten hätte.
Matthew Clarke spürte die Trauer wie einen Stein in der Magengrube. Sein Albtraum hatte in dem Augenblick begonnen, als Anton Krotz seine Frau in dem Coffee Shop aus der Nische gezerrt hatte. Niemals würde er die Hand seiner Frau auf der Rückenlehne der Nische vergessen, ihre bleiche Haut, die lackierten Nägel. Das entsetzliche Funkeln des Messers an ihrer Kehle. Der höllische Lärm, als der Mann vom SWAT-Team die Schüsse abgefeuert hatte. Das umherspritzende Blut.
Matthew Clarkes Welt war ins Trudeln geraten. Er wusste nicht, was der nächste Tag bringen würde oder wie er es schaffen sollte, weiterzumachen. Er wusste nicht, wie er sich aufraffen sollte, die einfachsten Dinge zu tun: das Frühstück bestellen, einen Anruf tätigen, eine Rechnung bezahlen, die Wäsche aus der Reinigung holen.
Laura hatte ein Kleid in die Reinigung gebracht.
»Schön, Sie zu sehen«, würden die Leute in der Reinigung sagen. »Wie geht es Laura?«
Tot.
Ermordet.
Clarke wusste nicht, wie er in solchen unvermeidlichen Situationen reagieren würde. Wer wusste das schon? Wie sollte man sich auf so etwas vorbereiten? Würde es ihm gelingen, eine tapfere Miene aufzusetzen und darauf zu antworten? Es war ja nicht so, als wäre Laura an Brustkrebs oder Leukämie oder einem Hirntumor gestorben. Er hatte nicht die geringste Chance gehabt, sich auf ihren Tod vorzubereiten. Ein entsetzlich erniedrigender Tod hatte sie ereilt: Ihr war in aller Öffentlichkeit, in einem Lokal, die Kehle durchgeschnitten worden. Und das unter den wachsamen Augen des Philadelphia Police Department. Und jetzt mussten ihre Kinder ohne Laura leben. Ohne ihre Mutter. Ohne ihre beste Freundin . Wie sollte, wie konnte man das akzeptieren?
Trotz aller Ungewissheiten war Matthew Clarke sich einer Sache ganz sicher. Eines war so klar für ihn wie das Wissen, dass Flüsse ins Meer mündeten, so klar wie der gläserne Dolch des Kummers in seinem Herzen.
Detective Kevin Francis Byrnes Albtraum hatte gerade erst begonnen.
Zweiter Teil
Die Nachtigall
11.
» R atten und Katzen.«
»Was?«
Roland Hannah schloss kurz die Augen. Immer, wenn Charles was sagte, war dieses Wort das gesprochene Äquivalent eines Fingers auf einer Tafel. So war es seit langer Zeit, schon seitdem sie Kinder waren. Charles war sein Stiefbruder. Er war schwer von Begriff, hatte aber ein sonniges Gemüt. Roland liebte diesen Mann mehr, als er jemals einen anderen Menschen geliebt hatte.
Charles
Weitere Kostenlose Bücher