Byrne & Balzano 3: Lunatic
Nordseite der Brücke lag eine weiße Plane der Spurensicherung, unter der sich irgendetwas verbarg. Officer Lindsey Valentine kam auf Jessica zu. Sie war Mitte zwanzig, schien körperlich gut in Form zu sein und hatte strahlende Augen.
»Was haben wir?«, fragte Jessica.
Officer Valentine zögerte. Sie arbeitete zwar im zweiundneunzigsten Revier, doch was sich unter der Plastikplane verbarg, hatte sie offenbar ziemlich mitgenommen. »Der Fund wurde vor einer halben Stunde gemeldet«, sagte sie und führte Jessica und Byrne zu der Plane. »Die beiden Jungen haben es gefunden, als sie über die Brücke wollten.«
Officer Valentine hob die Plastikplane hoch. Auf dem Bürgersteig lagen ein Paar Schuhe. Es waren Damenschuhe, dunkelrot, vermutlich Größe vierzig. Ganz normale Schuhe, nur dass in diesen Schuhen ein Paar abgeschnittene Füße steckten.
Jessica hob den Blick und schaute Byrne an.
»Die Jungen haben das gefunden?«, fragte Jessica.
»Ja, Ma’am.« Officer Valentine winkte die Jungen zu sich. Vermutlich trieben sie sich öfters in der Einkaufsmeile herum. Sie schienen nicht gerade zart besaitet zu sein, aber jetzt sahen sie eingeschüchtert aus.
»Wir wären fast drüber gestolpert«, sagte der Größere der beiden.
»Habt ihr gesehen, wer das auf die Brücke gelegt hat?«, fragte Byrne.
»Nee.«
»Habt ihr es angefasst?«
»Nee.«
»Habt ihr hier jemanden gesehen, als ihr über die Brücke gelaufen seid?«, fragte Byrne.
»Nee«, sagten sie im Chor und schüttelten die Köpfe, um ihre Aussage zu unterstreichen. Dann sagte der Größere: »Wir standen gerade ’ne Minute oder so hier, da hielt ein Wagen, und der Typ sagte, wir sollten verschwinden. Er hat dann auch die Bullen angerufen.«
Byrne wandte sich Officer Valentine zu. »Wer hat angerufen?«
Officer Valentine zeigte auf einen neuen Chevrolet, der ungefähr zehn Meter vom Absperrband entfernt parkte. Daneben stand ein Mann um die vierzig in Anzug und Mantel. Byrne wandte ihm seinen Blick zu und hob einen Finger. Der Mann nickte.
»Warum seid ihr noch hier geblieben, nachdem die Polizei verständigt worden war?«, fragte Byrne die Jungen.
Die Jungen zuckten mit den Schultern.
Byrne drehte sich zu Officer Valentine um. »Haben wir ihre Angaben?«
»Ja, Sir.«
»Okay«, sagte Byrne zu den Jungen. »Ihr könnt gehen. Es könnte aber sein, dass wir noch mal mit euch sprechen müssen.«
»Was passiert damit?«, fragte der kleinere Junge und zeigte auf die Leichenteile.
»Was damit passiert?«, fragte Byrne.
»Ja«, sagte der Größere. »Nehmen Sie das mit?«
»Ja, natürlich.«
»Warum?«
»Es sind Beweisstücke eines Gewaltverbrechens.«
Die beiden Jungen blickten ihn mit großen Augen an. »Das ist ja voll krass«, sagte der Kleinere schließlich.
»Wieso fragt ihr?«, fragte Byrne. »Wollt ihr das bei eBay anbieten?«
Der kleinere Junge blickte erstaunt. »Geht das denn?«
Byrne zeigte auf das Ende der Brücke. »Geht nach Hause«, sagte er. »Ganz schnell. Geht nach Hause, sonst verhafte ich eure ganze Familie.«
Die Jungen rannten los.
»Meine Güte«, sagte Byrne. »eBay.«
Jessica wusste, was er meinte: Hätte sie als Elfjährige ein paar abgeschnittene Füße auf einer Brücke gefunden, wäre sie vermutlich vor Angst gestorben. Für diese Kids war es wie eine Episode aus CSI . Oder wie ein Videospiel.
Byrne sprach mit dem Mann, der die Polizei verständigt hatte, während das eisige Wasser des Schuylkill River unter der Brücke hindurchfloss. Jessica schaute Officer Valentine an. Es war ein sonderbarer Augenblick, als sie beide neben den abgetrennten Füßen standen, die vermutlich zu Kristina Jakos gehörten. Jessica dachte zurück an ihre Zeit als Streifenpolizistin, wenn die Kollegen von der Mordkommission an einem Tatort auftauchten, den sie, Jessica, abgesichert hatte. Sie erinnerte sich, dass sie den Detectives damals mit Respekt und ein wenig Neid begegnet war. Ob Officer Valentine nun zu ihr aufschaute?
Jessica kniete sich hin und sah sich die Fundstücke genauer an. Die Schuhe mit den niedrigen Absätzen waren vorne rund und ziemlich breit und mit einem dünnen Riemen über dem Fußspann versehen. Jessica machte ein paar Fotos.
Eine Überprüfung ergab genau das, was sie erwartet hatten. Niemand hatte etwas gesehen oder gehört. Doch den Detectives war eines klar – und dafür brauchten sie keine Zeugenaussagen: Die Leichenteile waren nicht zufällig hier hingeworfen worden. Jemand hatte sie
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