Byrne & Balzano 4: Septagon
leichte Brise, die in den Laden wehte.
Auf der ersten Seite der Akte war ein großes Foto von Caitlin, ein Farbfoto in DIN A4. Immer wenn Jessica dieses Foto betrachtete, musste sie an den Film Freiwurf mit Gene Hackman denken, doch es wäre ihr schwergefallen, den Grund dafür zu nennen. Vielleicht, weil das Mädchen auf dem Foto aus dem ländlichen Pennsylvania stammte. Vielleicht, weil das Gesicht des Mädchens eine Offenheit spiegelte, ein Vertrauen, wie es in den USA der Fünfzigerjahre verankert gewesen zu sein schien – lange vor Caitlins Geburt, ihrem Leben und ihrem Tod –, eine Zeit, als Mädchen noch Sattelschuhe und Kniestrümpfe, Strickwesten und Blusen mit Peter-Pan-Kragen trugen.
So sehen Jugendliche heute nicht mehr aus, dachte Jessica.
Nicht in Zeiten von MySpace und Katalogen von Abercrombie & Fitch und Regenbogenpartys. Nicht in der heutigen Zeit, in der sie sich eine Tüte Doritos und eine Cola kaufen und in Lancaster County in einen Bus steigen konnten, um anderthalb Stunden später in einer Stadt auszusteigen, in der sie sich vollkommen verlieren würden – eine vertrauensvolle Seele, die niemals eine Chance bekam.
Schätzungen zufolge war Caitlin zwischen Mitternacht und sieben Uhr morgens am 2. Mai gestorben. Genauer konnte der Gerichtsmediziner den Todeszeitpunkt nicht bestimmen, da Caitlin seit mindestens achtundvierzig Stunden tot gewesen war, als ihr Leichnam gefunden wurde. Das Mädchen wies keine äußeren Verletzungen auf, keine Hautrisse oder Abschürfungen, keine Spuren, die darauf hindeuteten, dass es gefesselt worden war, keine Wunden, die darauf schließen ließen, dass es mit seinem Angreifer gekämpft hatte. Unter den Fingernägeln waren keine Hautpartikel oder anderes organisches Material entdeckt worden. Außerdem gab es keinen Hinweis auf sexuellen Missbrauch.
Und Caitlin war vollständig bekleidet gewesen. Sie trug eine ausgefranste Jeans, Reeboks, eine schwarze Jeansjacke, ein weißes T-Shirt sowie einen lilafarbenen Nylon-Rucksack. An ihrem Hals hing eine Kette mit einem silbernen Claddagh-Anhänger. Sie war zwar nicht besonders wertvoll, doch dass die Tote sie trug, sprach gegen eine etwaige Theorie, dass sie Opfer eines außer Kontrolle geratenen Raubmordes geworden war.
Dafür sprach auch die Todesursache, denn Caitlin O’Riordan war ertrunken. Mordopfer in Nord-Philadelphia starben normalerweise nicht auf diese Weise. Sie wurden erschossen, erstochen, mit einer Machete in Stücke gehauen, mit einem Baseballschläger zu Tode geprügelt, mit einem Brecheisen erschlagen, von einem Laster überfahren, mit einem Eispickel abgestochen, mit Benzin übergossen und bei lebendigem Leibe verbrannt ... Das alles passierte, und noch mehr. Jessica hatte schon einiges erlebt. Bei einem Mord in North Philly, in dem sie ermittelt hatte, war das Opfer mit einem verrosteten Rasenkantenschneider erschlagen worden.
Aber ertränkt? Selbst wenn ein Mordopfer im Delaware River schwamm, war der Tod zumeist durch eine der genannten Mordmethoden herbeigeführt worden.
Jessica überflog den Laborbericht. Das Wasser in Caitlins Lungen war sorgfältig untersucht worden. Es enthielt Fluoride, Chlor, Zinkorthophosphate, Ammoniak sowie Spuren einer halogenierten Säure. Dem Bericht beigefügt waren zwei Seiten mit grafischen Darstellungen und Diagrammen. Den Untersuchungen des kriminaltechnischen Labors und des Gerichtsmediziners zufolge war Caitlin nicht im Delaware oder im Schuylkill River ertrunken, ebenso wenig im Wissahickon Creek oder in irgendeinem der vielen Brunnen, für die Philadelphia bekannt war. Auch nicht in einem Schwimmbad oder in einem privaten Swimmingpool.
Caitlin war in ganz normalem Leitungswasser ertrunken.
Bei den ersten Ermittlungen vor vier Monaten hatte man das Wasserwerk von Philadelphia kontaktiert und erfahren, dass das Wasser in Caitlins Lungen nach Aussage der Umweltbehörde mit größter Wahrscheinlichkeit aus der Stadt der brüderlichen Liebe stammte. Die drei Aufbereitungsanlagen in Baxter, Belmont und Queen Lane hatten wegen eines Öltanker-Unfalls im März technische Modifizierungen bei der Trinkwassergewinnung vorgenommen, sodass die entsprechenden Daten vorlagen.
In diesem Gebäude hier gab es kein fließendes Wasser. Es gab keine Badewannen, keine Plastikwannen, keine Eimer, kein Aquarium und keine Kanister – kein einziges Gefäß, das groß genug gewesen wäre, um einen Menschen darin zu ertränken.
Im Roundhouse, dem Polizeipräsidium an der
Weitere Kostenlose Bücher