Camel Club 01 - Die Wächter
der Beheizung, und es gab eine Kochnische, in der er seine kärglichen Mahlzeiten zubereitete. Ein winziges Bad komplettierte das bescheidene Interieur.
Der Mann schaute auf die Uhr, nahm ein Fernglas von dem wackligen Holztisch, der am Bett stand, holte einen zerfransten Leinenrucksack vom Schreibtisch, packte das Fernglas sowie mehrere Kladden hinein und verließ das Häuschen.
Alte Grabsteine ragten vor ihm empor. Das Mondlicht schimmerte auf dem verwitterten, bemoosten Stein. Als er von der Veranda auf den Rasen stieg, vertrieb die kühle frische Luft vollends den brennenden Schmerz, den der Albtraum in seinem Kopf hinterlassen hatte, nicht aber den Schmerz seines Herzens. Er hatte an diesem Abend viel zu erledigen, doch ihm blieb noch ein wenig Zeit. Und wie immer, wenn dies der Fall war, trieb es Stone an einen bestimmten Ort.
Er ging durch das breite Tor aus Gusseisen, dessen verschnörkelte Beschriftung kundtat, dass sich hier, im Nordwesten Washingtons, der Friedhof Mount Zion erstreckte, der zur Methodistengemeinde gleichen Namens gehörte, deren Sitz sich ganz in der Nähe befand. Sie war die älteste Schwarzengemeinde der Stadt, gegründet im Jahre 1816 von Gläubigen, die es leid gewesen waren, ihre Religion in nach Rassen getrennten Gotteshäusern auszuüben, deren Vorsteher in der Heiligen Schrift den Grundsatz der Gleichheit aller Menschen vor Gott offenbar überlesen hatten. Zudem war das drei Morgen große Grundstück eine wichtige Zwischenetappe der Geheimorganisation The Underground Railroad gewesen, die während des Amerikanischen Bürgerkriegs Sklaven aus dem Süden in die Freiheit des Nordens geschmuggelt hatte.
Jahrzehntelang war der historische Friedhof vernachlässigt worden. Grabdenkmäler waren umgekippt worden, und hüfthoch hatte das Unkraut gewuchert, bis die Gemeinde den Mount Zion endlich mit einem Gitterzaun umschließen und ein Friedhofswärter-Häuschen errichten ließ.
In der Nähe befand sich der größere, bekanntere Friedhof Oak Hill, letzte Ruhestätte zahlreicher Berühmtheiten. Doch Stone war der Mount Zion mitsamt seinem Platz in der Geschichte – als Tor zur Freiheit – viel lieber.
Vor ein paar Jahren war Stone als Friedhofswärter eingestellt worden, versah seine Arbeit gewissenhaft und sorgte dafür, dass die Rasenflächen und Grabstätten sich stets in gutem Zustand befanden. Das Häuschen, das Stone als Friedhofswärter bewohnen durfte, war für ihn das erste richtige Heim seit langer Zeit. Die Gemeinde bezahlte ihn bar, ohne dass lästiger Papierkram anfiel; allerdings verdiente er ohnehin zu wenig, als dass er Lohnsteuer hätte zahlen müssen. Es reichte kaum zum Leben, und doch war es die beste Anstellung, die Stone je gehabt hatte.
Er spazierte zur 27th Street, erwischte einen innerstädtischen Bus und stieg einen Häuserblock weiter aus – dort, wo er gewissermaßen seinen »Zweitwohnsitz« hatte. Als Stone das kleine Zelt erreichte, kramte er das Militärfernglas aus dem Rucksack und beobachtete das Gebäude auf der anderen Straßenseite. Stone hatte den Feldstecher behalten, nachdem er seinem Vaterland stolz gedient, letzten Endes aber gänzlich das Vertrauen zur politischen Führung verloren hatte. Seinen wahren Namen nannte er seit Jahrzehnten nicht mehr. Mittlerweile kannte man ihn nur noch als Oliver Stone; dass er diesen Namen angenommen hatte, ließ sich nur verstehen, wenn man es als Geste verschmitzten Trotzes deutete.
Er fühlte sich dem schon legendären Wirken des aufmüpfigen Filmregisseurs verbunden, der die offiziöse Geschichtsschreibung hinterfragte – eine Darstellung der Geschichte, die häufig mehr mit Dichtung als mit Wahrheit zu tun hatte. Sich Oliver Stones Namen zuzulegen, hatte er als durchaus passend empfunden, denn auch er hegte großes Interesse an der »wahren Wahrheit«.
Unbeirrt beobachtete Stone durchs Fernglas das Kommen und Gehen drüben am Gebäude. Schließlich verschwand er in seinem kleinen Zelt und schrieb im Licht einer betagten Taschenlampe seine neuesten Beobachtungen in eine der Kladden, die er in den Rucksack gepackt hatte. Einige davon verwahrte er im Friedhofswärterhäuschen, den Großteil jedoch in Verstecken an anderen Orten. Im Zelt ließ Stone nie Schriftliches zurück; er wusste, dass man das Zelt regelmäßig durchsuchte. In seiner Brieftasche führte er stets die amtliche Genehmigung bei sich, hier ein Zelt aufschlagen und sein Recht wahrnehmen zu dürfen, an dieser Stätte seinem Protest
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