Camel Club 04 - Die Jäger
Uniform als auch in Zivil; keiner von ihnen entging Stones geübtem Auge. Der Großteil der Einsatzkräfte hielt sich zweifellos auf den drei örtlichen Flugplätzen auf, um den Mörder eines bekannten US-Senators und des nationalen Geheimdienstchefs abzufangen. Das allgemein verachtete amerikanische Eisenbahnnetz hingegen verdiente offenbar keine große Aufmerksamkeit, als hielten Mörder es für unter ihrer Würde, die altersschwachen Gleise zu befahren. Stone konnte es nur recht sein.
Dreißig Minuten später stieg er mit Ziel New Orleans in den Crescent. Er hatte diese Entscheidung spontan gefällt, als sein Blick auf die Anzeigetafel fiel. Der Zug hatte mehrere Stunden Verspätung, andernfalls hätte er ihn verpasst. Obwohl von Natur aus nicht abergläubisch, hatte Stone darin ein Omen gesehen. Bevor er seinen Platz aufsuchte, zwängte er sich in eine enge Toilette, rasierte den Bart ab und ließ die Brille verschwinden.
Wie er gehört hatte, gab es in New Orleans aufgrund der Verwüstungen durch Hurrikan Katrina noch immer eine große Nachfrage nach Bauarbeitern. Und Leute, die verzweifelt Arbeitskräfte suchten, fragten nicht nach so heiklen Dingen wie Sozialversicherungsnummer und festem Wohnsitz. In diesem Stadium seines Daseins wollte Stone mit Fragen oder Zahlen, die seine wahre Identität enthüllen konnten, nichts zu tun haben. Sein Plan sah vor, mit einer Menschenmasse zu verschmelzen, die nach einem Albtraum, den sie nicht zu verantworten hatte, um einen Neuaufbau rang. Stone konnte die Situation dieser Menschen gut nachvollziehen; im Grunde bemühte er sich um genau das Gleiche, nur mit dem Unterschied, dass er seinen ganz persönlichen Albtraum durch seine beiden letzten Schüsse selbst heraufbeschworen hatte.
Während der Zug durch die Dunkelheit ratterte, schaute Stone zum Fenster hinaus. Er betrachtete das darin sichtbare Spiegelbild der jungen Frau, die neben ihm saß und einen Säugling im Arm hielt. Ihre Füße standen auf einer verbeulten Reisetasche und einem Kopfkissenbezug, der anscheinend Fläschchen, Windeln und Kleidung für das Kind enthielt. Beide schliefen; der Säugling lag mit der Brust an den Busen der Mutter geschmiegt. Stone drehte den Kopf und betrachtete das Kind, sein Dreifachkinn und die knubbeligen Fäustchen. Plötzlich öffnete der Säugling die Augen und sah ihn an. Es überraschte Stone, dass er nicht quäkte; tatsächlich gab er keinen Laut von sich.
Auf der anderen Seite des Mittelgangs verzehrte ein Mann, so dünn wie eine Eisenbahnschiene, einen Cheeseburger, den er im Bahnhof gekauft hatte. Zwischen seine knochigen, von geflickten Jeans bedeckten Knie hatte er sich eine Flasche Bier geklemmt. Neben ihm hatte ein junger, hochgewachsener, gutaussehender Bursche mit braunen Locken und Dreitagebart im ansonsten glatten Gesicht Platz genommen. Er besaß den sehnigen Körperbau und die geschmeidigen Bewegungen eines Highschool-Quarterbacks, der er offenbar einst gewesen war, wie seine Studentenjacke zeigte, auf der es von Abzeichen und Aufklebern nur so wimmelte. Anhand der aufgestickten Jahreszahl erkannte Stone, dass der Bursche die Highschool seit mehreren Jahren nicht mehr besuchte – eine lange Zeit, um vergangenem Ruhm nachzuhängen. Aber vielleicht hatte er sonst nichts mehr. Auf Stone wirkte der Mann, als wäre er der Überzeugung, dass die Welt ihm alles schuldete, ihre Versprechen aber nicht eingelöst hatte. Während Stone ihn beobachtete, stand er auf, schob sich am Cheeseburger-Esser vorbei, strebte zum Heck des Waggons und entschwand durch die Verbindungstür in den hinteren Teil des Zuges.
Stone hob die Hand und tippte behutsam gegen die winzige Faust des Säuglings, der mit einem kaum vernehmlichen Gurren darauf reagierte. Das Kind hatte noch sein ganzes Leben vor sich, während Stones Leben sich dem Ende zuneigte.
Aber erst einmal mussten sie ihn kriegen. Er würde es einer Obrigkeit, die sich oft herzlos gerade gegenüber jenen Menschen zeigte, die ihr am treuesten und unter stumm erlittenen Opfern dienten, so schwer wie möglich machen.
Stone lehnte sich in den Sitz zurück und beobachtete, wie Washington in der Ferne zurückblieb, während der Zug dahinratterte.
KAPITEL 3
Joe Knox las in der kleinen Bibliothek seines Stadthauses im nördlichen Virginia in einem Buch, als das Telefon läutete. Der Anrufer wählte seine Worte sparsam, und aus langer Erfahrung unterbrach Knox ihn nicht. Nach dem Anruf legte Knox das Buch beiseite, zog den
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