Wo nur die Liebe Zählt: Die Creeds (German Edition)
1. KAPITEL
Lonesome Bend, Colorado
N ormalerweise sah Tricia McCall keine Gespenster. Aber manchmal – vor allem, wenn sie einsam, müde oder beides war – glaubte sie aus dem Augenwinkel einen flüchtigen Blick auf ihren Hund Rusty zu erhaschen. Dann wünschte sie sich jedes Mal mit angehaltenem Atem das Unmögliche, und ihr Herz begann, vor Freude und Aufregung höher zu schlagen. Doch wenn sie sich umdrehte, egal wie schnell, war die Labrador-Setter-Mischung nirgendwo zu entdecken.
Natürlich nicht. Rusty war vor sechs Monaten im Schlaf gestorben, alt und zufrieden, mit grauer Schnauze. Immer wenn Tricia an ihn dachte, versetzte es ihr einen schmerzhaften Stich. Was oft der Fall war.
Rusty war fast ihr halbes Leben lang ihr bester Freund gewesen. Mit fünfzehn hatten sie und ihr Dad den rötlichbraunen Welpen unter einem Picknicktisch auf dem Campingplatz gefunden, halb verhungert, zitternd und voller Flöhe.
Sie und Joe McCall hatten Rusty so gut es ging gewaschen, gefüttert und anschließend sofort zu Doc Benchley gebracht, um ihn untersuchen und impfen zu lassen. Von diesem Tag an war Rusty ein Mitglied der Familie gewesen.
Ihre Gedanken wurden durch ein Miauen unterbrochen, das irgendwo von Tricias rechtem Fußknöchel heraufklang.
Im Bademantel und an den Füßen pinkfarbene flauschige Hausschuhe, die sie vor vielen Jahren von ihrer besten Freundin Diana zu Weihnachten geschenkt bekommen hatte, schaute Tricia runter auf Winston, einen schwarzen Kater mit einem weißen Fleck zwischen den Ohren. Er kam häufig zu Besuch, da er nur eine Treppe tiefer mit seinem Frauchen, TriciasUrgroßmutter Natty, zusammenlebte. Zwar waren die beiden Wohnungen durch eine Treppe miteinander verbunden, dennoch gelang es Winston immer wieder, sie zu erschrecken.
„Miau“, wiederholte der Kater, dieses Mal mit mehr Nachdruck, während er voller Ernst zu Tricia hinaufblickte. Was so viel bedeutete wie: Das nennt man Tierquälerei. Natty McCall wirkt vielleicht wie eine harmlose alte Frau, aber in Wahrheit lässt sie mich verhungern, das kannst du mir glauben. Und dagegen musst du unbedingt etwas unternehmen .
„Das klingt total glaubwürdig, so wie dein Atem nach Fisch riecht“, entgegnete Tricia laut. „Ich war schließlich letzten Freitag zu Hause, als die Einkäufe geliefert wurden, schon vergessen? Du müsstest nicht mal hungern, wenn wir bis zum Frühling eingeschneit wären.“
Winston ließ seinen Schwanz zucken, als wollte er sagen: Okay, es war einen Versuch wert. Er durchquerte die kleine Küche und sprang auf Tricias Tisch, wo er es sich direkt auf dem Papierstapel neben dem Drucker bequem machte. Aus halb geschlossenen, bernsteingelben Augen beobachtete er, wie Tricia sich eine Tasse Kaffee einschenkte und dann zu ihm hinüberschlenderte, um den PC einzuschalten. Vielleicht hatte Hunter ja eine E-Mail geschickt, das würde ihre Stimmung zumindest deutlich heben.
Sie war nicht direkt deprimiert, nein, sondern fühlte sich eher wie scheintot, wie in einer Zwischenwelt. Tricia trat auf der Stelle, lange schon. Und das nervte sie.
Der Monitor flackerte auf, und da war es, das Foto von ihr und Hunter, auf dem sie strahlend vor einer Skihütte in Idaho standen und wie – nun – wie ein Paar aussahen. Zwei glückliche und durchschnittlich attraktive Menschen, die zusammengehörten, perfekt ausgerüstet für einen Tag auf der Piste.
Mit einer Fingerspitze berührte sie Hunters gut aussehendes Gesicht. Die Pixel zerstreuten sich wie ein Miniuniversum, dassich nach einem winzigen, geräuschlosen Urknall ausdehnte. Sie stellte den Kaffeebecher auf den kleinen Platz, den Winston ihr zugestand, und sank auf einen Stuhl.
Einen Moment verharrte sie ganz still, die Tasse Kaffee neben sich, nach der sie sich schon verzehrte, seit sie morgens die Augen geöffnet hatte. Den Blick unentwegt auf die fröhliche, verschneite Szenerie auf ihrem Bildschirm gerichtet. Breites Grinsen. Strahlende Augen.
Vielleicht sollte sie ein anderes Foto als Bildschirmschoner nehmen. Oder wieder die Diashow von Rusty hochladen. Doch dafür saß der Schmerz noch viel zu tief.
Also ließ sie den Skiurlaub-Schnappschuss, wo er war. Während ihrer gemeinsamen Zeit in Seattle waren sie und Hunter glücklich miteinander gewesen, damals, vor eineinhalb Jahren, was ihr wie eine halbe Ewigkeit vorkam. Und sie hatten geglaubt, dass sie die Leidenschaft füreinander auch über solch eine Entfernung hinweg aufrechterhalten konnten. Leider war die
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