Canale Mortale (German Edition)
auf sie zu und brüllte, sie
solle verschwinden. Antonia sprang zur Seite, um seiner erhobenen Faust
auszuweichen, und schrie vor Angst auf. Dabei stolperte sie über ein
zusammengerolltes Tau am Boden. Marcello stürzte sich auf sie, hielt ihr den
Mund zu und zerrte sie zum Rand, wo er versuchte, sie über Bord zu werfen.
Antonia klammerte sich mit aller Kraft an der Reling fest. Marcello ließ sie
einen Augenblick los, um ein Ruder aus dem Beiboot zu ziehen. Sie stolperte am
Geländer entlang in Richtung Flavia und schrie ihr zu, dass ihr Bruder tot sei.
»È morto il tuo fratello, Andrea è morto!«
Dann sauste das Ruder auf ihren Arm nieder. Sie schrie vor Schmerz
laut auf und sackte auf dem Geländer zusammen. Im nächsten Augenblick riss
Marcello ihre Beine hoch und stieß sie über Bord. Antonia stürzte ins kalte
Wasser. Als sie wieder an der Oberfläche auftauchte, stand Marcello über ihr,
das Ruder mit beiden Händen haltend, und schlug wütend nach ihr. Antonia
versuchte auszuweichen, schnappte nach Luft, tauchte und schwamm ein Stück vom
Boot weg. Als sie wieder auftauchte, krachte ein Schuss. Marcello machte ein
seltsam erstauntes Gesicht, kippte nach vorne und fiel über Bord. Das Wasser um
ihn herum färbte sich rot.
Oben trat Flavia an die Reling, in der Hand einen Revolver. Antonia
schwamm panisch vom Boot weg. Sie fürchtete, Flavia würde sie nun ebenfalls
erschießen, aber als sie zurückschaute, war die Frau verschwunden. Dann,
während sie mit aller Kraft versuchte, von Marcellos Leiche, die in ihre
Richtung trieb, wegzuschwimmen, hörte sie ein Motorengeräusch. Sie schrie um
Hilfe.
Flavia bog um das Heck des Schiffs und näherte sich ihr langsam in
einem kleinen Motorboot. Als sie nah genug bei ihr war, reichte sie Antonia die
Hand und zog sie ins Boot. Antonia blieb um Atem ringend am Boden liegen und
hörte, wie Flavia telefonierte. Sie umklammerte den Rand des Bootes, richtete
sich auf und stützte das Kinn auf die Bordwand. Keine fünf Meter von ihnen
trieb der Leichnam ihres Entführers in den Wellen. Sie war so erschöpft, dass
sie nur leise »Danke« in Flavias Richtung sagen konnte. Die seltsame Frau
reagierte nicht. Sie schaute düster aufs Wasser und rauchte eine Zigarette.
Nach einer halben Ewigkeit hörte Antonia, wie sich von ferne ein Schnellboot
näherte. Es war die venezianische Polizei, mit an Bord befanden sich Florian
und Don Orione.
23
Eine Woche später saßen Antonia und Florian mit Rita im
Brauhaus Früh am Dom und klärten sie über das auf, was die Verhöre mit Flavia
ergeben hatten.
Guido Massato wusste von seiner verstorbenen Frau Cecilia, dass sein
Schwiegervater ein einzelnes kostbares Gemälde unter Verschluss hielt, das
während der deutschen Besatzung in die Obhut seines Vaters gegeben worden war.
Cecilia war die Einzige aus der Familie, der sich der Conte anvertraut hatte,
weil er wollte, dass sie nach seinem Tod diejenige war, die das Bild sehen und
erben sollte. Cecilia hatte sich darüber lustig gemacht, dass sie den Tizian
erst nach dem Tod des Conte sehen sollte, und Guido von dem Bild erzählt. Guido
wusste allerdings nicht, wo der Conte es versteckt hielt. Als er zufällig Aram Singer
kennenlernte, witterte er seine Chance, an das wertvolle Gemälde heranzukommen.
Cecilia hatte ihm auch erzählt, dass Nardo der Vertraute des Conte
war und womöglich ebenfalls von der Existenz des Gemäldes wusste. Daraufhin
hatte er zunächst versucht, den alten Mann über einen Mittelsmann zu bestechen.
Als dieser Versuch scheiterte, übte er über seinen Komplizen Marcello, einen
Hehler, Druck auf ihn aus. Der Besuch auf Burano war ein letzter Versuch
gewesen, den Restaurator zum Sprechen zu bringen.
»Warum haben sie denn dann Nardo nicht entführt? Das wäre doch von
deren Logik her viel sinnvoller gewesen?«
»Das war wohl auch geplant. Aber wir haben ihnen einen Strich durch
die Rechnung gemacht, indem wir Nardo bei Don Orione versteckten.«
»Und warum die Aktion mit den Briefen?«
Florian übernahm das Wort. »Als Aram Singer an ihn herantrat, wusste
Guido sofort, dass es sich um dasselbe Bild handeln musste, hinter dem er seit
Jahren her war. Er hatte hohe Spielschulden, daher war das Bild für ihn zu
einer fixen Idee geworden. Er war nur noch davon besessen, an das Gemälde zu
kommen. Deshalb fing er zunächst mit den Briefen an. Er kannte ja die
Geschichte um den Vater des Conte, dem man Kollaboration mit den Faschisten
nachgesagt hatte, und um
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