Canale Mortale (German Edition)
Guido um fünf Uhr
verabredet. Vielleicht würde er jeden Augenblick eintreffen. Wenn er sich
verspätet hatte, wäre es besser, wenn sie ihn in der Wohnung erwarteten. Als
Jana den Wohnungsschlüssel ins Schloss schob, öffnete sich die Tür von selbst.
Sie war nur angelehnt gewesen. Also war Guido doch schon da. Für
Sekundenbruchteile blieben sie erstaunt stehen. Dann betraten sie den dämmrigen
Flur.
Küche und Wohnzimmer machten auf Antonia den gleichen unbewohnten
Eindruck wie bei ihrem letzten Besuch. Aber in der Luft hing Kaffeeduft, so als
habe jemand noch vor Kurzem Espresso gekocht. Antonia bemerkte auf einem
Beistelltisch am Fenster zwei leere Tassen mit Kaffeeresten.
»Sie sind offenbar gerade weg!«
»Guido! Ugo! Guido!«
Die Verzweiflung hatte wieder nach Octavia gegriffen. Kopflos lief
sie zwischen Salon und Küche hin und her, immer wieder nach Ugo und Guido
rufend. Jana war inzwischen allein den langen Flur hinuntergegangen, und
Antonia sah, wie sie an der Tür zum Schlafzimmer zögerte. Sie folgte der
Freundin. Die Tür war nur angelehnt, und Jana rührte sich zunächst nicht von
der Stelle. Dann gab sie der Tür einen kleinen Stoß. Ihre Augen weiteten sich,
und sie hielt die Hand vor den geöffneten Mund.
Auf dem Bett mit den zerwühlten Laken lag Guido in einer riesigen
Blutlache. Antonia, die Jana über die Schulter geschaut hatte, wich entsetzt
zurück. Jana rannte zum Badezimmer, und Antonia hörte, wie sie sich laut
würgend übergab.
Antonia betrat das abgedunkelte Zimmer. Sonnenlicht drang durch eine
Jalousie und warf waagerechte Streifen auf den Leichnam. Als sie näher trat,
sah sie, dass Guidos Kopf merkwürdig schief dalag. Offenbar hatte jemand seine
Halsschlagader und eine Sehne durchtrennt. Auch die Pulsadern seines linken
Arms waren geöffnet. Der Arm hing schlaff über der Bettkante. Auf dem hellen
Teppich darunter hatte sich eine große rote Pfütze gebildet. Vieles war von dem
hohen Flor bereits aufgesaugt worden. Er musste eine Unmenge Blut verloren
haben. Antonia wunderte sich einen Moment lang, dass sein weißes Gesicht so
friedlich aussah. Dann lief sie in den Flur und bat Octavia, die Polizei zu
verständigen.
Kurz bevor die Carabinieri eintrafen, fiel Antonia etwas ein. Sie
ging noch einmal zurück ins Schlafzimmer. Bei ihrem ersten Besuch hatte sie
neben dem Bett eine schwarze Haarspange aus Strass entdeckt. Sie erinnerte
sich, dass sie diese mit dem Fuß unter das Bett geschoben hatte. Vorsichtig
bückte sie sich und sah nach. Die Spange lag nicht mehr da.
Von der Tür aus warf sie einen letzten Blick auf Guidos schönes Gesicht,
das durch den Blutverlust fast durchsichtig schien. Eines seiner Lider war
nicht ganz geschlossen, und für einen Augenblick hatte sie den Eindruck, als
sehe er sie an.
22
Über dem Wasser schwebten kleine Nebelschwaden, als
Antonia und Jana am nächsten Morgen das Boot bestiegen. Es war erst sechs Uhr,
und die Stadt lag noch morgenstill da. Florian und Don Orione verabschiedeten
sie vom Bootssteg aus. Don Orione hatte sie beide auf die Stirn geküsst und
ihnen versichert, dass er für sie bete. Florian hatte cool getan, aber Antonia
spürte seine Anspannung. Jana, die seit dem Verschwinden ihres Bruders fast
nichts mehr gegessen hatte, war seit dem Tod ihres Liebhabers verstört. Sie
erledigte alle Handgriffe auf dem Boot rein mechanisch, und Antonia fragte sich,
ob es klug war, sie zu dieser Unternehmung mitzunehmen.
»Das Wichtigste ist, dass ihr Ruhe bewahrt. Bloß niemanden
provozieren!«, schärfte ihnen Florian noch einmal ein. Vor einer halben Stunde
war er plötzlich dagegen gewesen, dass Antonia die Übergabe machte.
»Lasst Don Orione hinfahren, er kann besser mit den Leuten reden …«
Aber das war jetzt unmöglich. Die Entführer hatten sich noch einmal
gemeldet, und Octavia hatte ihnen gesagt, dass zwei Frauen, eine davon Ugos
Schwester, das Bild zum verabredeten Ort bringen würden.
Sie fuhren zum Parkhaus, nahmen Octavias Wagen und gelangten über
den Damm aufs Festland. An der Autostrada nach Padua tranken sie in einer Bar
schweigend einen Kaffee. Zehn Kilometer vor Vicenza hielten sie an. Die Skizze
der Entführer zeigte eine Abzweigung auf eine kleinere Landstraße, die in die
Nähe der Brenta führte. An der rechten Straßenseite lag ein verlassenes
Bauernhaus. Die Fensterläden waren geschlossen. In der Nähe des Hauses sollten
sie der Skizze zufolge parken, um das Haus herumgehen und in den Weg einbiegen,
der
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