Canale Mussolini
dann zog er die Hand zurück, sie war ganz rot, und er suchte weiter nach seiner Seite, er fühlte den Schmerz, fand sie nicht mehr, und da brüllte er los: »Pericle, Pericle, Periclín.«
Onkel Pericle lag auch am Boden ganz in der Nähe des Bruders. »Sei ruhig, sei ruhig.«
»Mich hat’s erwischt, mich hat’s erwischt«, rief Onkel Iseo, und dann: »Ich sterbe, ich sterbe, sorg du für meine Kinder.« Und Onkel Pericle brachte ihn hinter einem umgekippten Lieferwagen in Deckung, verband die Wunde notdürftig, während ringsum Explosionen, Rauch und Schreie waren und Onkel Iseo immer wieder sagte: »Lass mich nicht allein, bleib hier.«
Die anderen schossen alle weiter, und Onkel Pericle ließ ihn in der Deckung zurück. »Sei ruhig, bleib hier, ich mach den Angriff mit und komm wieder, wart auf mich, Bruder.«
Und der: »Ich warte auf dich, wenn ich nicht sterbe, warte ich auf dich«, und wir wissen ja, wie es dann ausgegangen ist.
Aber damals nach Rom, da musste der Älteste mit, da konnte nicht jeder gehen, da war eben Onkel Temistocle dran. Die Frauen setzten Wasser auf, füllten die Wanne auf der Tenne, und Onkel Pericle und Onkel Temistocle badeten, erst der eine, dann der andere im selben Wasser, denn damals war das so, es gab schließlich noch keine Duschen. Dann zu Abend gegessen und ab ins Bett. Wo jeder es seiner Frau noch einmal besorgt haben wird. Und am nächsten Morgen brachen sie auf. In Wirklichkeit wird Onkel Pericle es der seinen auch mehrmals besorgt haben, bekanntlich war er heißblütig, und vielleicht wollte er es ja sozusagen auf Vorrat machen für die abzusehende Zeit der Abstinenz. Und im Übrigen war sie auch heißblütig. Meine Vettern – die sie ab und zu durch die Zimmerwand hörten, wenn sie nebenan zugange waren – sagten, dass sie ihren Mann mit zusammengebissenen Zähnen anfeuerte: »Los, Pericle, los, los!« Und er dagegen wütend: »Kratz mich nicht so!« Jedenfalls fuhren sie früh am Morgen, noch vor Tagesanbruch, mit dem Fahrrad los nach Rom.
Wie meinen Sie? Warum sie nicht den Zug nahmen? Aber wenn wir das Geld für den Zug gehabt hätten, dann hätten wir es auch gehabt, um den Pachtzins zu zahlen, es war Quote 90, ich sagte es Ihnen schon, und es war keine Lira aufzutreiben, selbst wenn man sie in Gold aufgewogen hätte. Wir hatten Säcke voller Weizen, aber keine Lira in der Tasche, weil auch der Weizen nichts mehr wert war; mit der Quote 90 konnte man mittlerweile im Ausland so viel kaufen, wie man wollte. Damals hat der Duce die italienische Landwirtschaft kaputt gemacht. Die Industrie nicht, aber die Landwirtschaft hat er kaputt gemacht.
Jedenfalls brachen sie auf, und fest in die Pedale tretend gelangten sie nach Rom. Sie brauchten fünf oder sechs Tage, ich erinnere mich nicht genau. Sie werden rund hundert Kilometer am Tag zurückgelegt haben, das war schließlich nicht wie beim Giro d’Italia heute, wo zweihundertfünfzig oder auch dreihundert Kilometer am Tag gefahren werden, bei durchschnittlich sechzig Stundenkilometer, mit Dopingmitteln. Die Fahrräder waren schwer, die Reifen abgefahren. Ab und zu gab es einen Platten, und man musste anhalten und den Schlauch flicken. Sie hatten sogar welche zum Wechseln mitgenommen, auch die waren aber schon alt und mehrmals geflickt. Und dann jede Menge Brot für die Reise und Kleidung. Die Straßen waren gar nicht so schlecht, der Faschismus hatte bereits die ANAS gegründet, und die Strecke von Ferrara nach Rom war schon asphaltiert, zuerst die Via Emilia, dann die Via Flaminia. Sie schliefen, wie es grad kam, in den Ställen und Heuschobern von armen Leuten, ab und zu gab es Herbergen für Pilger, Jubeljahre und diese Sachen. Und die Berge rauf und runter, mit der Kraft ihrer Waden gelangten sie nach Rom. Sie übernachteten in der Casa del Viaggiatore direkt beim Hauptbahnhof, am nächsten Morgen standen sie auf, zogen das schwarze Hemd und die Milizuniform an, die sie zu einem Päckchen zusammengerollt hinter den Sattel geklemmt mitgebracht und am Vorabend dem Zimmermädchen zum Aufbügeln gegeben hatten, und präsentierten sich beim Palazzo Venezia: » Klopf, klopf, klopf, wir wollen Rossoni sprechen.«
»Ja, ist das vielleicht dein Bruder?«, sagte da einer zu ihnen. »Was erlaubst du dir? Du meinst wohl Seine Exzellenz Rossoni! Und wer bist denn du überhaupt? Da taucht also einer hier auf, im Palazzo Venezia, und sagt, ich will mit dem und dem sprechen? Ja, warum denn nicht gleich mit dem Duce? Aber ihr
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