Canard Saigon (German Edition)
dachte an den liebevoll gedeckten Tisch im Wohnzimmer. Seine Mutter hatte ein selbst gesticktes Tischtuch aufgelegt, eine Geburtstagskerze aufgestellt und das gute Geschirr aufgedeckt. Auf der Anrichte stand ein Bild von Karls Vater Georg, der während des Frankreichfeldzuges gefallen war. Daneben hatte sie ebenfalls eine kleine Kerze angezündet. Frieda war eine gut aussehende, 38 Jahre alte Frau und nun doch schon seit einigen Jahren Witwe.
Kurz nach Mittag kamen Elsa und Elisabeth Bittner herüber, um Karl zu gratulieren. Die drei Damen hatten einen Kuchen gebacken, obwohl es bestimmt nicht einfach gewesen war, alle Zutaten zu besorgen. Den ganzen Nachmittag saßen Karl Wagner und seine Gratulantinnen zusammen, verspeisten feierlich den Kuchen und tranken Zichorienkaffee. Ein paar Stunden lang vergaßen sie ihre Sorgen und Nöte und fühlten sich richtig wohl. Karl hatte diesen Tag genossen. Und er hatte sich vorgenommen, sich bei den Damen auf besondere Weise zu bedanken.
In Karl Wagner keimte Ungeduld auf. Er schlich wieder zum Ende der Gasse und spähte ums Eck. Der Jeep hatte bei den zwei Soldaten angehalten, und der Fahrer diskutierte mit den beiden Rotarmisten. Karl konnte kein Wort verstehen, denn das Heulen des Sturmes übertönte alle sonstigen Geräusche. Endlich stiegen die beiden Russen in den Wagen und der Jeep brauste davon. Karl überzeugte sich noch einmal, ob die Luft nun wirklich rein war. Er überquerte die Taborstraße und steuerte geradeaus in die Kleine Sperlgasse. Das erste Haus war eine Bombenruine. Karl huschte zwischen die Trümmer, um sich erneut zu vergewissern, dass niemand in der Nähe war und er nicht verfolgt wurde.
Der Junge war täglich unterwegs, versuchte ständig, Nahrungsmittel oder Heizmaterial aufzutreiben. Dabei war er in der Wahl seiner Mittel nicht zimperlich. Diebstahl und Schleichhandel in kleinem Umfang halfen ihm und seiner Mutter, über die Runden zu kommen. Heute war ihm ein großer Wurf geglückt. Bei seinem morgendlichen Streifzug hatte ein Vorgang in der Nähe des Nordbahnhofs seine Aufmerksamkeit erregt. Ein russischer und ein amerikanischer Militärlastkraftwagen standen nebeneinander im Hof eines Lagergebäudes. Ein Jeep, offensichtlich ein Begleitfahrzeug, war quer zur Einfahrt geparkt. Zwei amerikanische und drei russische Soldaten luden Schachteln um, gesichert von zwei Rotarmisten. Karl beobachtete die Soldaten aus sicherer Deckung. Da passierte das Unerwartete. Ein russischer Offizier trat in den Hof und winkte die Soldaten zu sich. Nach kurzer Diskussion begaben sich alle Männer in das niedere Gebäude. Karl pirschte sich unbemerkt an die Ladefläche des amerikanischen Lkws heran. Sein Gefühl, auf das er sich immer verlassen konnte, sandte ihm keine Warnzeichen. Er handelte blitzschnell, schnappte sich drei Schachteln und verschwand so schnell wie er aufgetaucht war in der nächsten Ruine. Er suchte ein Versteck, um seine Beute in Ruhe zu begutachten. Vorsichtig öffnete er eine der Verpackungen und traute seinen Augen nicht. In den Schachteln befanden sich kleine Ampullen mit Penicillin. Augenblicklich begann sein Herz wild zu pochen, sein Gehirn schien stillzustehen. Seine Hände zitterten vor Aufregung, und er starrte mit ungläubigem Blick auf die Ampullen. Karl Wagner war auf Gold gestoßen.
Er packte seine Beute in die Taschen seines Mantels und machte sich sofort auf den Weg, um sie einzutauschen. Geschickt wich er allen möglichen Begegnungen mit russischen Soldaten aus. Sein Ziel war die Weintraubengasse, wo sein Freund, der Schwarze Otto, wohnte. Der hatte immer Heizmaterial, egal ob Holz oder Kohlen. Niemand wusste woher, aber es fragte auch keiner danach. Jedenfalls pflegten Karl und Otto regelmäßige Tauschgeschäfte. Seit ihrer gemeinsamen Schulzeit waren die beiden jungen Männer Freunde. Karl konnte sich 100-prozentig auf ihn verlassen. Der Schwarze Otto lud Karl zum Mittagessen ein. Bei einem Linseneintopf vereinbarten sie, dass Otto ihnen bis Juni wöchentlich Heizmaterial liefern sollte. Als Gegenleistung übergab ihm Karl ein Drittel seines Penicillins.
Am frühen Nachmittag machte sich Karl auf die Suche nach Gustav Prenninger, der sich üblicherweise zwischen Prater und Mexikoplatz herumtrieb. Erst nach fast zwei Stunden fand er ihn endlich hinter dem schwer beschädigten Riesenrad. Gustav hatte eben einen Handel abgewickelt und war auf dem Weg zum nächsten Geschäftstermin. Karl schilderte in knappen Worten sein Erlebnis.
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