Canard Saigon (German Edition)
konnte Karl die Ruine des angebauten Gebäudes sehen. Ein Blick auf den eingestürzten Stiegenaufgang hatte genügt, um zu erkennen, dass dieses Haus unbewohnbar war. Das russische Infanteriefeuer hatte ganze Arbeit geleistet. Die Hälfte des Daches fehlte, die Decke zum unteren Stockwerk war eingestürzt.
Neugierig hatte sich Karl Wagner die Ruine näher angesehen. Er war bis knapp an den Rand des Loches getreten. Erst dort entdeckte er, dass nur ein Teil der Decke fehlte. Ein schmaler, etwa ein Meter breiter Randstreifen war übrig geblieben, der stabil wirkte. Karl war auf das Deckenfragment gestiegen und vorsichtig der Wand entlang zu einem Mauerdurchbruch geschlichen. Nach etwa vier Metern hatte er wieder festen Boden unter seinen Füßen. Er stand in einem Hausflur, der schnurgerade zum zerstörten Stiegenaufgang führte. Erstaunt bemerkte er auf der unversehrten rechten Flurseite eine Wohnungstür. Dahinter befand sich zu seiner Verwunderung eine intakte Dachgeschoßwohnung. Eine leer stehende Wohnung, die wegen des eingestürzten Stiegenhauses vom Nachbarhaus aus nicht zu erreichen war. Und von außen betrachtet, musste jeder glauben, dass auch diese Wohnung zerstört wäre. Karl Wagner hatte ein perfektes Versteck gefunden.
Die ersten Wochen nach der Befreiung Wiens durch die sowjetischen Truppen waren die schlimmsten. Die russischen Besatzer plünderten und raubten alles, was ihnen wertvoll erschien. Begehrt waren Uhren, Fotoapparate und Schmuck. Die größte Gefahr jedoch ging nachts von ihnen aus. Keine Frau, kein Mädchen war vor den Soldaten sicher. Vergewaltigungen standen auf der Tagesordnung. Die Frauen bezahlten mit ihrem Körper und ihrer Würde für den Zorn der Roten Armee auf das Naziregime. Erst nach einigen Wochen beruhigte sich die Situation ein wenig. Die russische Kommandantur stellte Vergewaltigung unter Strafe, da sie so gar nicht in das Bild des überlegenen kommunistischen Weltbilds passte. Trotzdem verbarrikadierten sich die Frauen Wiens jeden Abend, da betrunkene Soldaten weiterhin die Häuser nach Beute und Frauen durchsuchten. Die von ihnen ausgehende Bedrohung war allgegenwärtig.
Karl Wagner und seine Mutter hatten ein paar ihrer Habseligkeiten in die Dachwohnung geschafft und sich halbwegs wohnlich eingerichtet. Auf Drängen seiner Mutter weihten sie ihre Nachbarn in ihr Geheimnis ein. Überglücklich nahmen Elsa Bittner und ihre zwölfjährige Tochter Elisabeth das Geschenk an. Täglich, kurz vor Einbruch der Dunkelheit, zogen sich die Frauen in ihr Versteck zurück, und Karl blieb allein in der Wohnung zurück.
Der Sturm tobte unerbittlich, Karl fror. Er zog den Kopf zwischen seine Schultern, um wenigstens seine Ohren vom hochgestellten Kragen seines Mantels schützen zu lassen. Dieser alte Armeemantel aus dem Ersten Weltkrieg hielt ihn einigermaßen warm. Und die geräumigen Innentaschen boten viel Platz, um wertvolle Ware unauffällig zu verstauen. Mit meiner heutigen Beute werden meine Damen zu Hause ihre Freude haben, dachte er.
Karl Wagner und seine Mutter Frieda fristeten, wie alle Wiener, ein kärgliches Dasein. Von Hunger und Kälte gepeinigt, kämpften sie sich von Tag zu Tag. Karl hatte am 21. Jänner seinen 17. Geburtstag gefeiert. Seine Mutter hatte ihm eine wunderschöne Geburtstagsfeier bereitet. Tags zuvor hatte sie begonnen, die ohnehin saubere Dreizimmerwohnung gründlich zu reinigen. Vorraum und Küche waren in Wahrheit ein Raum, aber Frieda hatte einen beigefarbenen, bodenlangen Vorhang montiert, der als Raumteiler diente. Peinlich genau achtete sie darauf, dass rechts neben der Tür die Schuhe abgestellt wurden und die Garderobe ordentlich an die Wandhaken darüber gehängt wurde. Rechts neben dem Vorhang war ein blechernes Waschbecken, das gleichzeitig als Küchenspüle diente. Frieda Wagner war stolz darauf, fließendes Wasser in der Wohnung zu haben. Die Toilette befand sich ohnehin am Gang und musste mit den Bittners geteilt werden. Über dem Waschbecken hing ein rechteckiger Spiegel, darunter war eine Ablage, auf der Frieda die Waschutensilien täglich feinsäuberlich ordnete. Der alte Herd neben der Spüle war sowohl mit Holz als auch mit Kohle beheizbar. Auf der linken Seite des fensterlosen Raumes stand eine weiß lackierte Kredenz, in der Geschirr und Töpfe ihren Platz hatten. Daneben befand sich der Essplatz. Ein alter Tisch, an die Wand geschoben, mit einer großen Lade für Küchenmesser und Besteck, bot Platz für drei Personen.
Karl
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