Canard Saigon (German Edition)
das Schwein.“ Karl spürte aufsteigenden Hass auf den toten Soldaten. „Er hat den Tod verdient, diese Drecksau.“ Er schüttelte seine Mutter ein wenig. „Hast du gehört, Mama, die russische Drecksau ist schuld! Hast du gehört? Ich will nichts anderes mehr von dir hören, Mama, ist das klar?“
Frieda erschrak über den Gefühlausbruch ihres Sohnes und nickte heftig. „Ja, Karl, ist schon gut.“
Beide schwiegen betreten, dann wechselte Karl abrupt das Thema.
„Mama, ich habe heute ein großes Geschäft gemacht. Hör gut zu, Mama, heute ist Freitag. Ab Montag bringt uns der Schwarze Otto jede Woche was zum Heizen. Das ist so abgemacht. Hast du gehört? Bis Juni bringt er jede Woche entweder Holz oder Kohlen. Was er halt eben gerade hat. Da draußen am Boden liegt ein schönes Stück Pferdefleisch. Ungefähr fünf Kilo. Hier habe ich noch ...“, Karl kramte in seinem Mantel und holte die verborgenen Schätze, Stück für Stück, aus den Taschen und legte sie auf den Wohnzimmertisch, „... drei Stangen Zigaretten, amerikanische Konserven und ein paar Ampullen Penicillin. Mama, und hier ist noch ein kleines Geschenk für dich. Ich hätte es dir gern an einem schöneren Tag überreicht.“ Karl gab ihr das Päckchen mit den Nylonstrümpfen. „Vielleicht kann es dich ein wenig trösten.“
Frieda starrte ihren Sohn mit großen, ungläubigen Augen an. Sie hatte Mühe, die Situation zu begreifen. In wenigen Minuten war zu viel passiert. Mehr, als ihr Gehirn verarbeiten konnte. Erst der Überfall, bei dem sie gedacht hatte, ihre letzte Stunde habe geschlagen. Dann Karl, der wie aus dem Nichts aufgetaucht war und sie aus ihrer schrecklichen Lage befreit hatte. Und jetzt türmten sich diese Gaben des Himmels auf dem Tisch, ihr Gesicht schmerzte höllisch, und in der Küche lag ein erstochener Russe, der ihnen das Leben kosten konnte. Ihre Gefühle fuhren Achterbahn, sie war einer Ohnmacht näher als einem einzigen klaren Gedanken.
Karl bemerkte die Verwirrung im Blick seiner Mutter und fuhr ruhig fort: „Mama, hör zu. Wir machen jetzt Folgendes. Du packst alles zusammen in deinen Einkaufskorb, nimmst auch eine Decke für Elisabeth mit und bringst das ganze Zeug hinauf.“
„Karl, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll, ich ..., ich bin so durcheinander, ich ...“
„Mama“, unterbrach sie Karl sanft. „Du hast so viel durchgemacht, du brauchst jetzt vor allem Ruhe. Mach einfach, was ich dir sage. Ich kümmere mich um alles andere.“
Frieda nickte ein paarmal und begann mit mechanischen Bewegungen, den Anweisungen ihres Sohnes zu folgen. Karl ging in die Küche, stieg über die Leiche des Russen und holte das Fleisch. Gemeinsam packten sie alles in den Korb, und Karl geleitete seine Mutter zur Wohnungstür. Frieda versuchte, nicht auf den Toten zu sehen, was ihr aber nicht gelang. Sie unterdrückte jedoch jede Gefühlsregung und atmete erleichtert auf, als sie die Tür erreichten.
„Ich schaff den Kerl weg und komm dann nach“, flüsterte Karl seiner Mutter zu. „Lass mir die Damen da oben schön grüßen.“
Karl hauchte seiner Mutter einen Kuss auf die Wange, dann machten sie sich auf den Weg. Er überprüfte, ob die Luft rein war, und winkte dann seine Mutter auf die Treppe zum Dachboden. Er wartete noch, bis sie verschwunden war, dann eilte er in die Wohnung zurück.
Karl war zutiefst aufgewühlt. Er setzte sich an den Küchentisch und versuchte, klare Gedanken zu fassen. Vor seinem geistigen Auge tauchte die schreckliche Szene der Vergewaltigung auf. Er verscheuchte die Gedanken, aber die Bilder kamen immer wieder in ihm hoch. Er verspürte ein Wirrwarr der Gefühle, die von Ohnmacht bis Verzweiflung, von Trauer bis Wut reichten. Hilflos saß er auf dem Sessel und starrte auf die im Dunklen liegende Leiche. Vor seinen Füßen lag ein toter Russe. Und er war jetzt ein Mörder, vielleicht auch nur ein Totschläger, aber das machte nicht viel Unterschied. Karl hatte einem Menschen das Leben genommen. Nun musste er überlegen, wie er sein Leben und das seiner Mutter retten konnte. Welche Möglichkeiten hatten sie, um aus dieser misslichen Lage zu entkommen? Eines stand fest, die Leiche musste aus der Wohnung verschwinden. Aber wohin? Sollte er den Toten hinauf in das Versteck schleppen? Diesen Plan verwarf er nach kurzem Nachdenken. Erstens war der Zugang zu schmal. Zu leicht konnte er mit der schweren Last in die Tiefe stürzen. Und zweitens konnte er nicht abschätzen, wann das Nachbarhaus
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