Canard Saigon (German Edition)
Gustav wurde hellhörig, witterte eine einmalige Gelegenheit. Penicillin hatte einen unglaublichen Wert auf dem Schwarzmarkt, und er wollte dieses Geschäft sofort über die Bühne bringen. Zielstrebig und umsichtig marschierten sie in die Lasallestraße, wo Gustav ein Versteck im Keller eines ausgebombten Hauses hatte. Auch er war zu einem unverhofften Leckerbissen gekommen. Aus einer russischen Kaserne waren einige Pferde entkommen. Eines war Gustav und zwei Freunden zufällig in die Arme gelaufen. Sie hatten es unbemerkt in ein leer stehendes Lagerhaus bringen können. Da Fleisch eine echte Rarität war, hatten sie das Tier sofort geschlachtet und zerlegt. Karl und Gustav plauderten noch ein wenig und tauschten dann Penicillin gegen Zigaretten, ein paar Konserven und fünf Kilo bestes Pferdefleisch. Außerdem legte Gustav noch ein Paar echte amerikanische Nylonstrümpfe, eine besondere Kostbarkeit, dazu. Karl lächelte, als er sich den Gesichtsausdruck seiner Mutter vorstellte, wenn er ihr dieses Geschenk überreichen würde.
Als sie das Kellerversteck verlassen wollten, bemerkten sie einen russischen Jeep, der im Hauseingang der Ruine parkte. Drinnen saßen vier Soldaten, die ihren ständigen Begleiter, den Wodka, in vollen Zügen genossen. Vermutlich sollten sie Streife gehen, aber bei dem schneidenden Wind war es gemütlicher, in einem Fahrzeug zu sitzen. Karl und Gustav mussten über eine Stunde lang warten, bis die Rotarmisten wieder abzogen. In Karl wuchs langsam die Sorge um seine Damen zu Hause. Er beruhigte sich bei dem Gedanken, dass seine Mutter und die Nachbarinnen bei Einbruch der Dunkelheit ihr Versteck am Dachboden aufsuchen würden. Endlich, kurz nach 19 Uhr, zogen die Russen ab.
Karl verabschiedete sich von Gustav und machte sich auf den Heimweg. In seinen Manteltaschen hatte er die restlichen Ampullen, drei Stangen Zigaretten, ein paar amerikanische Konserven und die Nylonstrümpfe verstaut. Das Pferdefleisch hatte er in Zeitungspapier gewickelt und unter seiner linken Achsel eingeklemmt. Von außen war nicht zu sehen, welch wertvolle Fracht Karl mit sich schleppte. Er stellte sich immer wieder vor, wie sich seine Mutter über die Gaben freuen würde. Karl fühlte sich, als wäre er das Christkind am Heiligen Abend. Seine Mutter würde seine Leibspeise, ein feuriges Gulasch, kochen, vielleicht auch Rouladen oder was immer sie aus dem Fleisch zaubern konnte. Heizprobleme hatten sie auch keine mehr. Während Karl sich die Szenen ausmalte, huschte ein triumphierendes Lächeln über sein Gesicht und er zitterte vor freudiger Erregung. Was für ein Tag, was für ein Glück!
Karl Wagner wartete noch etwa zehn Minuten im Schutz der Hausruine, um sicher zu sein, dass er weder verfolgt noch bedroht wurde. Er drückte das Fleisch fest in seine Achselhöhle, zog den Kopf zwischen die Schultern und stemmte sich gegen den Sturm, um die letzten Meter zu seiner Wohnung zurückzulegen. Er erreichte das Haus, schlüpfte durch die kaputte Haustür und hielt unwillkürlich an. Da war es plötzlich wieder, dieses untrügliche Zeichen von Bedrohung. Eine heiße Welle, ausgehend von seinem Magen, durchzuckte seinen Körper – von den Zehenspitzen bis in seine Kopfhaut. Augenblicklich schärfte sich seine Wahrnehmung, sein Gehirn war leer und hoch konzentriert gleichzeitig. Karl schien einen sechsten Sinn für Gefahr zu haben, und dieses Gefühl hatte ihn schon häufig gerettet.
Vorsichtig verharrte er einige Sekunden im tiefen Schatten des Hauseingangs, bevor er sich katzengleich in Richtung Stiegenaufgang bewegte. Er hörte seinen eigenen Puls pochen und fürchtete, dass sein Atmen im ganzen Haus zu hören sei. Lautlos glitt er die ersten Stufen hinauf und blieb erneut stehen, um zu lauschen. Er konnte nichts hören, aber er wusste, die Gefahr war da. Karl trug schwere Wehrmachtsstiefel. Erst mit viel Übung hatte er gelernt, sich damit lautlos zu bewegen. Er huschte den dunklen Stiegenaufgang hinauf. Im Flur des ersten Stocks sah er sich kurz um und schlich weiter die Treppen aufwärts. Er überlegte kurz und entschied, nicht in die Wohnung zu gehen, sondern erst in dem Versteck nach dem Rechten zu sehen. Schritt für Schritt näherte er sich dem dritten Stock. Oben durchzuckte ihn neuerlich eine heiße Welle. Er konnte die Bedrohung fast körperlich spüren. Vorsichtig spähte er nach links, dorthin, wo seine Wohnung war. Karl stockte der Atem. Die Wohnungstür stand offen, und er bemerkte einen flackernden
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