Caras Gabe
sich hinab, um meinen Hals zu küssen.
Ich schaudere, doch nur, weil seine Lippen einen Kontrast zur Kälte des Windes bilden. Das Einzige, woran ich denken kann, ist Arun.
Mit einem letzten Blick auf den undurchdringlichen Nebel wende ich mich vom Fenster ab und drehe mich zu Lurian herum. Der Engel sieht mich fragend an.
„Warum ist außer dir niemand abtrünnig geworden?“
Er hebt eine Braue und mustert mich eingehend. Schnell falte ich meine Hände ineinander, bevor ihr Zittern mich verraten kann.
Lurian räuspert sich und tritt seinerseits an eines der Fenster. „Es war niemals ihr Wunsch, Marmon zu verlassen“, sagt er leise und schaut in den Nebel. „Aber vielleicht wird es ihnen nun, da er erloschen ist und sie einen Grund haben, gelingen.“
Ich schüttele den Kopf. Das Schicksal der Lichtträger in ihrem Verlies interessiert mich nicht im Geringsten. Ich muss aufpassen meine Stimme ruhig klingen zu lassen. Wenn ich mich verrate, wird Lurian mir nicht die Wahrheit sagen und dann wird der letzte Ausweg für mich versperrt bleiben. Innerlich schimpfe ich mich eine Närrin, dass ich nicht schon früher daran gedacht habe. Ich atme tief ein und mache einen zögerlichen Schritt auf Lurian zu.
„Wie ist es dir gelungen, dich von Marmon loszusagen?“
Lurian mustert mich lange Zeit, bevor er antwortet. „Ich habe den Tod in Kauf genommen und den Sprung gewagt. Ich habe ihn für das gehasst, was er mir angetan hat. Mir und den anderen, die er meine Brüder nannte.“ Sein Blick wird forschend. „Weshalb fragst du?“
In meiner Kehle hat sich ein Knoten gebildet und in meinem Kopf herrscht ein Rauschen, das mich kaum einen klaren Gedanken fassen lässt. Kalter Schweiß tritt mir auf die Stirn. Was soll ich ihm antworten, das ihn nicht misstrauisch macht? Ich habe nicht die eiserne Beherrschung meiner Mutter, die die schlimmsten Momente ohne jegliche Gefühlsregung überstehen kann. Am liebsten würde ich laut fluchen, da kommt mir der rettende Gedanke.
Forsch trete ich einen weiteren Schritt vor und lege eine Hand auf Lurians Arm. „Was ist mit deiner Mutter?“
Ein Ausdruck des Schmerzes huscht über sein Gesicht und ist doch so schnell verschwunden, wie er aufgetaucht war. Lurian hat eine seiner schützenden Masken übergestreift. Er zuckt mit den Schultern und wendet sich ab.
„Wer weiß das schon?“, sagt er scheinbar gleichgültig.
Ich fühle mich, als würde mein Herz sich in meiner Brust überschlagen. Meine Hand zittert. Schnell verberge ich sie hinter meinem Rücken. Glücklicherweise dreht Lurian sich in diesem Moment nicht zu mir um. Wenn er mein Gesicht sehen würde, wäre alles aus.
Lautlos gehe ich einen Schritt rückwärts, dann noch einen und noch einen.
Es ist nicht schwer zu erraten, was ich zu tun habe, und ich verschwende keinen weiteren Atemzug darauf es mir anders zu überlegen.
Ohne Lurian einen letzten Blick zu gönnen, drehe ich mich um, schreite durch die Gänge und Hallen, bis kühle Luft mich umfängt und ich zu meinem Ziel gelange.
Der Nebel ist so dicht, dass ich kaum erkennen kann, wo der Fels endete und der Fall beginnt. Vorsichtig taste ich mich weiter voran. Ich weiß, wie tief der Berg an dieser Stelle abfällt, doch gnädigerweise kann ich die scharfen Felsen so weit unter mir nicht sehen.
„Cara!“
Erschrocken fahre ich zusammen. Er steht nur wenige Schritte hinter mir.
„Cara, bleib bei mir.“
Ich drehe mich ein letztes Mal zu ihm um. Auf diesen Klippen, im grauen Zwielicht, wirkt der Engel verloren, wie ein kleiner Junge, der fürchtet seinen einzigen Freund zu verlieren. Jemand wie Lurian zeigt seine Verletzlichkeit nur äußerst selten. Ich weiß, was es ihn gekostet hat, diese Worte auszusprechen. Es schmerzt, ihn alleine lassen zu müssen, und für einen kurzen Moment frage ich mich, ob Marmon ähnlich wie Lurian jetzt empfunden hat, als sein Sohn sich von den Felsen in die Tiefe warf.
„Ich habe keine Wahl“, höre ich mich sagen.
Für einen Moment wundere ich mich über die Widersprüchlichkeit meiner Aussage: Ich ändere eine Prophezeiung, weil ich keine Wahl habe. Überrascht stelle ich fest, dass meine Stimme belegt klingt und mir Tränen auf den Wangen gefrieren. Ich hebe eine Hand zum Gruß.
„Auf bald“, flüstere ich. Dann trete ich über den Rand.
Der graue Nebel verschluckt mich und für einen Augenblick ist es, als hätte ich niemals existiert. Es ist mir unmöglich zu sagen, ob ich falle oder fliege. Ich treibe dahin,
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