Caras Gabe
Arun.
„Warum habe ich ihn nie mehr über sein Leben gefragt?“, frage ich den Wind. „Ich weiß nicht, wie er lebte, bevor ich ihn traf. Alle Fragen der Welt hätte ich ihm stellen können, doch ich habe es nicht getan.“
Lurian reißt einen Stoffstreifen von seinem Gewand. Er beugt sich vor und verbindet meinen Unterarm mit Sorgfalt. Der Schmerz fühlt sich seltsam entfernt an. Ich betrachte den Stoffstriemen, durch den mein Blut sickert, da legt Lurian einen Arm um mich und führt mich zum Bett. Ich gehe mit ihm, ohne mich zu wehren.
„Quäl dich nicht“, sagt er sanft. „Du kennst die Antworten auf deine Fragen.“
Alle Kraft weicht aus mir wie aus einem löchrigen Blasebalg und ich falle in mich zusammen. Damals habe ich gespürt, dass er mich liebt und es ist genug gewesen. Nur leider kann selbst dieses Wissen mich nicht trösten. Träne um Träne rinnt über meine Wangen.
„Bitte“, schluchze ich, „erzähl mir von ihm.“
Der Engel seufzt, zieht mich auf seinen Schoß und vergräbt sein Gesicht in meinem Haar. „Jede Nacht“, flüstert er erstickt. „Jede Nacht diese Qual, Cara. Warum?“
„Bitte“, flehe ich. „Erzähl mir von Arun.“
Lurian hebt den Kopf, legt eine Hand an meine Wange und bettet meinen Kopf an seine Halsbeuge. „Es gibt zwei Arten von Dämonen“, beginnt er und streicht mir mit der Hand sanft übers Haar. „Solche, die aus der Nacht geboren werden. Sie sind eins mit der Finsternis, treten nur äußerst selten in Erscheinung und mischen sich so gut wie nie in die Geschicke der Menschen ein. Aber es gibt auch solche wie Arun, die einst sterblich waren. Sie haben es nicht leicht, denn sie können sich niemals gänzlich von ihrem menschlichen Sehnen befreien. Wenn der Dämon dich wirklich liebt, dann wird es für immer so sein.“
Lange sitzen wir so da. Ich schaue dem ewig gleichen Nebel zu, der wie Geisterschlieren an meinem Fenster vorbeisegelt. Lurian hält mich noch immer und dann, irgendwann, spüre ich seine Lippen an meiner Schläfe. Es ist kein unangenehmes Gefühl.
Seine Hand streicht über meinen Rücken, er küsst meinen Nacken. Es ist wohltuend, auf eine Art. Auch, als er eine Hand an mein Gesicht legt und meine Haut mit zärtlichen Küssen bedeckt, lasse ich es geschehen. Ich schließe die Augen und sinke in seine Umarmung. Teilnahmslos, ergeben.
Nach einem Moment höre ich ihn leise seufzen.
Er hebt mich hoch und legt mich aufs Bett. Eine Decke wird über mich gebreitet, leise Schritte auf Stein, dann fällt die Tür ins Schloss und ich bin allein. Ich drehe mich auf die Seite, ziehe die Beine an den Körper und weine.
Schließlich ist es der Schrei einer Elster, in dem ich Hoffnung finde. Es ist mir ein Rätsel, wie der Vogel es schafft, in diesen Höhen zu fliegen, oder wie er sich überhaupt an diesen Berg verirrt hat, doch allein der Anblick der Elster, auch wenn sie nur flüchtig zwischen den Wolken aufblitzt, lässt mein Herz schneller schlagen.
Sie schießt durch die Nebelfetzen wie ein mutiger Pfeil und es ist ihr schimmerndes Gefieder, das mich hoffen lässt, und die Art, wie sie mich stets auf den richtigen Weg geleitet hat, wenn ich nicht weiterwusste.
Es gibt einen Weg, auch wenn ich ihn noch nicht sehe. Arun hat gesagt, ich könne die Prophezeiung ändern. Mehr brauche ich nicht zu wissen.
Ich renne durch die verlassenen Gänge der Zitadelle, bis ich zu dem hohen Raum gelange, den Lurian Bibliothek nennt. Sämtliche Wände in diesem Raum sind mit Büchern vollgestellt und zu allem Überfluss stehen auch im Raum beidseitige Regale. Es ist wie in einem Labyrinth. Aber ich kann nicht lesen und so ist das Wissen, das in diesen Büchern schlummert, für mich nicht zugänglich.
Nur eine weitere Art Magie, die mir verwehrt bleibt. Marmon hatte zumindest seine Glaskugeln und Spiegel, die ihm Fenster in eine Welt gewesen waren, die er nicht mehr selbst betreten konnte. Doch ich habe all sein Glas zerschlagen und die Kammern und den Thronsaal versiegeln lassen. Davon abgesehen beherrsche ich keinerlei Magie, um das Glas zu befehlen.
Ich muss einen anderen Weg finden.
An diesem Abend ohne Sonne findet Lurian mich wieder an dem eisigen Fenster, unter dem die Nebelbänke wie Wellen ineinanderfließen. Ich lehne mich gegen ihn, als er hinter mich tritt. Diesmal ist mir seine Wärme willkommen.
Seine Hand spielt mit den Strähnen meines Haares, das mir bereits bis auf die Schultern reicht.
„Sie sind gewachsen“, sagt der Engel und beugt
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