Gefangene der Sehnsucht
1
England, Juni 1215
Z uerst sah es so aus, als wollten sie beide denselben Hahn haben.
Aber als Jamie die schlanke Frau noch eine Weile beobachtete, wurde ihm klar, dass sie überhaupt nicht an dem Federvieh interessiert war. Ebenso wenig wie er.
Er zog sich in die Schatten zurück, die die Werksteinhäuser der Cheap Street warfen, während sich am Abendhimmel schwere, dunkle Wolken aufzutürmen begannen. Jamie war der Hahn nur aufgefallen, weil ein Priester ihn sich angeschaut hatte und Jamie zurzeit auf der Suche nach einem Mann Gottes war. Aber der dort drüben war lediglich ein x-beliebiger Pfarrer, der sich ein Federvieh anschaute. Weder der Mann noch das Tier war Jamies Ziel.
Und auch nicht das der Frau, denn ihr Blick wanderte gleichmütig weiter.
Auf der anderen Seite der Straße hatte man sich in dreckstarrende Durchgänge verzogen, um von dort aus das Treiben auf dem Marktplatz zu beobachten. Der Abendnebel zog in schmalen Bändern um die Beine der Menschen, als sie durch die dunkel werdenden Straßen eilten. Jamie legte den Kopf schief, um die Frau besser beobachten zu können. Die Kapuze tief in die Stirn gezogen, die Laterne war aus, stand sie fast reglos da, alles signalisierte: Jagd und Verfolgung.
Er sollte das wissen.
Jamie ließ die Augen rasch über den noch immer geschäftigen Marktplatz schweifen, schlüpfte aus seiner Gasse, um die Frau aufzusuchen. Er ging um den Block herum und schlich sich von hinten an sie heran, als die Marktbuden schlossen, um Platz für die wilderen, nächtlichen Unterhaltungen zu schaffen, die zu erwarten waren.
»Habt Ihr etwas im Auge?«, fragte er leise.
Sie zuckte zusammen und stolperte zur Seite. Rasch, mit einer anmutigen Bewegung, fing sie sich jedoch sofort wieder. Ihre schmale Hand berührte leicht die rohe Mauer, die Fingerspitzen zitterten.
Alles, was er von der Frau sehen konnte, waren die dunklen Dinge an ihr. Ihre Augenbrauen standen leicht schräg vor Argwohn, fein geschwungene tintenschwarze Bögen auf einer breiten, blassen Stirn, eingerahmt von der dunklen Kapuze.
»Ich bitte um Verzeihung«, sagte die Frau mit kalter Stimme, ihre Hand war unter ihrem Umhang verschwunden.
Sie hatte eine Waffe. Wie … bemerkenswert.
Er neigte den Kopf in Richtung der Menschenmassen. »Habt Ihr Eure schon gefunden?«
Sie sah verblüfft aus, während sie einen Schritt zurückmachte und gegen das Mauerwerk stieß. »Meine was, Sir?« Obwohl verwirrt, fuhr sie damit fort, die Menschen zu beobachten, musterte jeden, der sich auf dem Platz aufhielt, mit einem raschen Blick. Genau wie er es tat, wenn er auf der Jagd war.
»Eure Beute. Hinter wem seid Ihr her?«
Sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf ihn. »Ich mache Einkäufe.«
Er lehnte sich mit der Schulter an die Mauer am anderen Ende, gelassen. Ich bin nicht gefährlich, sollte ihr das sagen. Weil sie es sein könnte. »In einem finsteren Seitengässchen lässt sich aber kein gutes Geschäft machen. Ihr wäret besser bedient, wenn Ihr mit einem der Markthändler verhandeln würdet.«
Ihre Augen waren von einem dunklen Grau, und ihr Blick war höchst eindringlich. Sie betrachtete Jamie einen Moment lang und schien dann zu einer Entscheidung gekommen zu sein. Sie zog die Hand unter ihrem Umhang hervor und wandte sich wieder den Menschenmassen zu.
»Vielleicht laufe ich vor meinem Mann und seinem schrecklichen Jähzorn davon«, sagte sie. »Ihr solltet jetzt gehen.«
»Wie schrecklich ist sein Jähzorn denn?«
Sie stieß mit ihrer kleinen Faust in die Luft. »So schrecklich.«
Jamie drehte sich um und ließ wie sie die Augen über die Menschen auf dem Marktplatz wandern. »Soll ich ihn für Euch töten?«
Sie lachte leise. Die dunkle Kapuze, die sie sich über den Kopf gezogen hatte, bewegte sich in kleinen Wellen um ihr blasses Gesicht. Lange, schwarze Locken fielen ihr über die Schultern. »Wie ritterlich von Euch. Würdet Ihr das so einfach tun? Aber schließlich habe ich nicht gesagt, dass ich vor einem Ehemann davonlaufe. Ich sagte, dass es vielleicht so sein könnte.«
»Ah. Und was sonst könntet Ihr hier wollen?«
»Vielleicht will ich Hähne stehlen.«
Ah. Sie wusste also, dass jemand, der sie beobachtete, glauben musste, dass sie das Federvieh haben wollte. Und weil das so war, sollte er auch nicht seinem Wunsch nachgeben, darüber zu lächeln. Denn eine Frau, die merkte, dass sie beobachtet wurde, war eine gefährliche Frau.
Er wandte sich um und schaute zu dem Platz, auf den, den
Weitere Kostenlose Bücher