Caravan
musste ich an die orangen
Luftballons und die Banner auf dem Platz in Kiew denken, an die Zelte und die Musik, und an meine Eltern, die wie aufgeregte
Teenager von Freiheit und ähnlichem Zeug schwärmten. Und es gab mir einen Stich ins |31| Herz. Ich hob die nasse Schleife auf, schüttelte sie aus und hängte sie an die Wäscheleine. Dann blickte ich ins Tal hinunter,
und mein Herz fing wieder zu singen an. Ich atmete tief ein. Die Luft – so süß, so englisch. Das war die Luft, von der ich
geträumt hatte, eine Luft voller Geschichte, und doch so hell wie … na, wie etwas sehr Helles. Wie hatte ich neunzehn Jahre leben können, ohne diese Luft zu atmen? Und all die kultivierten,
tapferen, warmherzigen Menschen, von denen ich bei Chaucer, Shakespeare, Dickens gelesen hatte. (Zugegeben, meist in Übersetzung.)
Sie wollte ich kennenlernen.
Genau genommen freute ich mich besonders darauf, einen Gentleman mit einer Melone kennenzulernen, wie Mr. Brown aus dem
Let’s Talk English-
Buch, der so schneidig und romantisch aussieht, mit seinem engen Anzug und dem aufgerollten Schirm und mit der interessanten
Beule in der Höhe seines Hosenschlitzes, die der Vorbesitzer meines Englischbuchs mit schwarzer Tinte sehr realistisch eingezeichnet
hatte. Wer würde nicht mit ihm Englisch sprechen wollen? Auch Lord Byron sieht romantisch aus, trotz seines bizarren Turbans.
Die Engländer sollen unglaublich romantisch sein. Man denke nur an die berühmte Geschichte von dem Mann, der dem Tod trotzt
und ins Schlafzimmer einer Dame klettert, nur um ihr eine Schachtel Pralinen zu schenken. Leider war Bauer Leapish der einzige
Engländer, den ich bis jetzt kannte, und der gehörte wahrscheinlich nicht in diese Kategorie. Ich hoffte, er war nicht repräsentativ.
Bitte halten Sie mich nicht für eins dieser schrecklichen ukrainischen Mädchen, die nach England kommen, um sich einen Ehemann
zu angeln. So eine bin ich nicht. Aber falls die Liebe zufällig meiner Wege käme, na gut, mein Herz war offen und bereit.
|32| Der Kessel fängt zu pfeifen an. Andrij gießt kochendes Wasser auf den Teebeutel, gibt zwei Löffel Zucker dazu und hält die
heiße Tasse in beiden Händen, als er zum Tor geht, wo er manchmal steht, wenn er einen Moment der Muße hat, und den vorbeifahrenden
Wagen nachsieht, nach seiner
angliska rosa
Ausschau haltend. Er stützt die Ellbogen auf das Tor und trinkt langsam, genießt die Wärme in seiner Kehle, die kühle Brise
des Morgens in den Downs und das lärmende Gezwitscher der Vögel, die ihren morgendlichen Radau veranstalten. Die Sonne ist
gerade über den Hügel gestiegen, und obwohl es noch nicht mal acht ist, spürt er bereits ihre Wärme auf der Haut. Das Licht
ist klar wie Kristall und zeichnet die Landschaft mit scharfen Schatten.
Er steht gern hier unten und sieht sich dieses England an, das, obwohl es direkt hinter dem Tor liegt, quälend weit weg zu
sein scheint. Wo bist du, Mrs. Brown aus
Let’s Talk English
mit deiner schmalen Taille und der engen gepunkteten Bluse? Wo bist du, Vagvaga Riskegipd mit dem Bubble Gum und den feurigen
Küssen? Seit er vor zwei Wochen in England angekommen ist, hat er keine einzige
angliska rosa
kennengelernt. Immerhin hat er ein paar vorbeifahren sehen, also weiß er, dass es sie gibt. Manchmal winkt er, und einmal
hat eine sogar zurückgewinkt. Und ja, sie war blond, und ja, sie fuhr ein rotes Ferrari-Cabrio. In einem Wimpernschlag war
sie fort, bevor er noch über das Tor springen konnte, um dem Heckspoiler nachzusehen, wie er hinter der Kurve verschwand.
Vielleicht wohnt sie ja hier in der Nähe, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie wieder auftaucht. Okay, seine letzte
Freundin Lida Sakanowka hat ihn wegen einem Fußballer sitzen lassen, na und? Viel Glück auch. Hier in England warten bessere
Frauen auf ihn.
Er pustet in die Tasse, damit der Tee schneller abkühlt, und denkt an seinen letzten Besuch in England. Wie lange ist |33| das her? Achtzehn Jahre vielleicht. Er muss sieben gewesen sein. Er hatte seinen Vater auf einer brüderlichen Delegation zur
Bergbaugewerkschaft von Sheffield begleitet, der Partnerstadt seiner Heimatstadt Donezk. Lern was, mein Junge, hatte sein
Vater gesagt. Hier kannst du etwas über die Schönheit der internationalen Solidarität lernen. Auch wenn sie ihm später nicht
half, als er sie brauchte. Armer Vater.
Er weiß nicht mehr viel von Sheffield, aber an drei
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