227 - Herr des versunkenen Reiches
Tauchtiefe: 4.000 Meter
»Ich schalte jetzt auf Autopilot, dann können wir etwas essen. Mir knurrt der Magen!« Commander Matthew Drax sah vergnügt aus, als er auf der Steuerkonsole seiner Transportqualle eine Sequenz bionetischer Eingabefelder berührte. Sie waren, wie üblich, mit Leuchtmikroben unterlegt. Allerdings hatte man diesem Quallenmodell keine fahlgrünen Allerweltsorganismen zugemutet, sondern ihm den Luxus exotischer Bakterienstämme gegönnt. Buntes Licht umspielte den Leitstand.
Er war größer als gewöhnlich, und wies neben der herkömmlichen Steuerung eine Anzahl zusätzlicher Funktionstasten auf. Was sie bewirkten, welche Möglichkeiten sie eröffneten, das musste Matt erst herausfinden. Klar war nur, dass dieser Prototyp nicht für die üblichen Fahrten in hydritischen Transportröhren gezüchtet worden war, sondern für das offene Gewässer der Tiefsee. Die Außenhaut war anders strukturiert, und statt der kleinen Bugbewaffnung steckte in ihr ein ganzes Arsenal bionetischer Geschütze. Zur Verteidigung; Hydriten waren friedliche Geschöpfe! Außerdem folgte der Prototyp Befehlen, von denen eine gewöhnliche Transportqualle nicht einmal geträumt hätte. Interessante Frage: Können bionetische Quallen träumen? Es gab viel zu entdecken und auszuprobieren, das war eine Erkenntnis, die zweifellos zu Matts guter Laune beitrug.
Und gute Laune brauchte er! Über ihm türmte sich inzwischen eine siebentausend Meter hohe Wasserdecke auf; zu viel zum Umkehren und zu wenig, um das Ende der Reise abzusehen. Obendrein hatte Matt Passagiere an Bord, die nur jemand als schwierig bezeichnen würde, der ihnen schmeicheln wollte. Und drei davon gleich in einer Person!
Aruula schien der Sinn nicht nach einer Mahlzeit zu stehen. »Maddrax! Da ist schon wieder eine dieser entsetzlichen Kreaturen! Ich sag’s dir noch einmal: Wir sind auf direktem Weg zur Pforte in Orguudoos Reich!«
»Das ist eine ganz normale Tiefseekreatur«, erklärte Matt – auch zum wiederholten Male. »Nichts gegen Orguudoo, aber denkst du, die Hydriten hätten ihre Stadt in seiner direkten Nachbarschaft erbaut?«
»Halt mich nicht für blöde!«, fuhr Aruula auf. »Die Hydriten fürchten Mar’os, nicht Orguudoo. Deshalb sind sie vor ihm sicher.«
Matthew Drax verkniff es sich, auf die Logik dieser Aussage einzugehen. Viele Wochen später, zurück auf trockenem Boden, sollte er sich eingestehen, dass ihm in der Anfangsphase seiner Reise nach Gilam’esh’gad ein klassischer Fehler unterlaufen war. Einer von jenen, die sich gerne einschleichen, wenn man bei seiner Planung zu sehr auf das Ziel fixiert ist und darüber vergisst, dass selbst die kleinste Unbekannte in der Rechnung eine Gefahr darstellt, die das ganze Unternehmen zum Scheitern bringen kann.
In diesem Fall war der Risikofaktor nicht, wie man hätte meinen können, Matts Gefährtin Aruula. Die schöne Barbarin glaubte zwar an überirdische Mächte und hielt es für frevelhaft, auf den tiefsten Meeresboden hinab zu tauchen. Was die Götter vor den Menschen versteckten, das sollte man unberührt lassen. So dachte sie. Andererseits liebte Aruula den Mann aus der Vergangenheit, und weil sie davon überzeugt war, dass Maddrax unbedingt einen vernünftigen Menschen an seiner Seite haben sollte, befand sie sich nun an Bord. Aber sie hatte keine Freude an dieser Reise. Und nicht nur sie.
»Kannst du das Tempo nicht erhöhen, Matt?«, forderte Yann Haggard, der zweite Passagier. »Je früher wir ankommen, desto besser!« Er hatte ebenfalls das Zeug zum Katastrophenauslöser. Und er trug, wie gesagt, noch zwei »Passagiere« in sich: die Geister der beiden Hydriten Gilam’esh und Nefertari.
Matt dachte an die Zeit zurück, in der er Yann kennen gelernt hatte. Er war der Bruder des Kapitäns gewesen, auf dessen Segler Matt damals eine Passage buchte – von Australien nach Afrika, wo er und Rulfan die damals noch entführte Aruula vermuteten. Nachdem er sich am Bein verletzt hatte, blieb Yann auf Madagaskar, wo sie Zwischenstation machten, zurück.
Monate danach trafen er und Matt erneut aufeinander. Matt hatte Aruula inzwischen wieder gefunden und Jean-Paul Pilatre de Rozier kennen gelernt, den Kaiser der Wolkenstädte. De Rozier war wie er durch den hydreeischen Zeitstrahl in die Zukunft geschleudert worden – aus dem Frankreich des achtzehnten Jahrhunderts ins Jahr 2474. Ohne es zu wissen, hatte er durch den damit verbundenen Tachyonenbeschuss eine Art befristeter
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