Carpe Somnium (German Edition)
Art von Maschine«, antwortete er. »Die ihren Treibstoff aus all diesen User-Accounts zieht.«
»Darf ich euch mit dem Herzstück von Unison 3.0 bekannt machen«, sagte Martin und stand auf. Ein dünner Tentakel aus Negativraum züngelte aus der Mitte der Türöffnung und leckte am Rand seines Gesichts, verzerrte seinen Mund zu einem starren, unfreiwilligen Lächeln von einem Meter Länge. Dann schnellte alles wieder an seinen Platz. »Das Tor zu uns selbst. Ich freue mich, euch die Gelegenheit zu einem Betatest seiner Fähigkeiten geben zu können.«
»Betatest?«, fragte Mistletoe.
»Das bedeutet, wir sind Laborratten«, antwortete Ambrose. Und an Martin gewandt sagte er: »Ich bin fertig mit alldem.«
Martin zuckte die Schultern. »Es steht dir frei zu gehen. Aber vergiss nicht, ohne Kalibrierung wird dein Verstand sich innerhalb weniger Tage restlos in seine Bestandteile auflösen. Wozu unheilbar geisteskrank werden, wenn das Gegenmittel doch schon in deiner Reichweite ist? Ich möchte dich nicht verlieren.«
Die Pflanze begann, ein gelbliches, übel riechendes Sekret abzusondern, das auf den Boden tropfte. Ambrose fragte sich, wie es sich wohl anfühlte, für immer die Kontrolle über seinen Verstand zu verlieren. Würde es wehtun? Würde er sich daran erinnern können, wie es sich anfühlte, normal zu sein?
»Du brauchst nichts weiter zu tun, als eine einzige neue Freundschaft zu schließen«, sagte Martin, »und du kannst dein Leben zurückhaben.«
Mistletoe packte Ambrose am Arm. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er einen dunkelblauen Anzug trug, in jedem Detail identisch mit Martins, noch bis zum goldenen
U
am Revers.
»Lass uns
gehen
, Ambrose.«
»Und Anna«, fuhr Martin unbeirrt fort, »für dich gilt dasselbe. Eine einzige neue Freundschaft, und deine Tante Dita kann ihr Leben in Frieden weiterleben.«
Mistletoe erstarrte, umklammerte immer noch Ambroses Arm.
Martin beugte sich hinunter und zog hinter der Pflanze das Ende eines langen gelben Schals hervor, das er sich zweimal um die Hand wickelte und seine Faust darum schloss. Dann riss er den Arm nach oben und zerrte eine Frau mittleren Alters auf die Füße. Der Schal war um ihren Hals geschlungen, sodass seine Wirkung die einer kurzen würgenden Leine war. Ihr Atmen klang rau und rasselnd, während sie sich an die Kehle griff.
Mistletoe ließ Ambroses Arm los und stürzte zu ihr. Ruckartig zog Martin an der Leine, die Frau stolperte rückwärts.
Mistletoe blieb stehen, machtlos. »Tante Dita«, sagte sie sanft.
Dita versuchte zu sprechen. Ihre Worte waren nicht mehr als ein leises Röcheln. Tränen stiegen ihr in die Augen. Mistletoe schrie: »Hören Sie auf!«
»Alles, was du dafür tun musst, ist, durch die Tür zu gehen«, sagte Martin. »Du triffst eine neue Freundin und nimmst ihre Freundschaftsanfrage an. Dann ist deine Tante Dita frei.«
Mistletoe schwieg. Ambrose konnte spüren, wie er sie verlor. Die Lache unter der Pflanze verströmte einen beißenden Essiggestank. In der Türöffnung flochten Gedanken-Streams sich zu Unsinns-Haikus.
Mega Schnäppchen-Chance
Liebe jetzt und für immer
Subsphärischer Müll
Ambrose überlegte, ob Martin womöglich nur bluffte. Das hier war das Epizentrum von Greymatter, tief im Innern des Betriebskerns von Unison, und Martin hatte das primäre Admin-Deck. Ditas Anwesenheit hier zu fälschen wäre ein Kinderspiel.
»Das Ganze ist ein Trick«, sagte Ambrose. »Sie ist nicht wirklich deine Tante Dita.«
Mistletoe stand unmittelbar vor der Tür, zitterte im eisigen Hauch der wirbelnden Maschine. Sie blickte über die Schulter zurück zu Ambrose. Nie hatte er sie so hilflos gesehen, und er wusste auch ohne die Analyse seiner Process-Flow-Routine, was sie gleich tun würde.
»Ich versichere dir, sie ist es«, sagte Martin. »Meine Männer haben sie festgenommen, bevor sie sich zusammen mit ihrem Haus in die Luft sprengen konnte.« Er zerrte am Ende des Schals. Ditas Augen weiteten sich panisch.
»Mistletoe«, sagte Ambrose, »hör nicht auf das, was er sagt. Sieh mich an.«
Martin zog an dem Schal, bis Dita nur wenige Zentimeter von seinem Gesicht entfernt war. Dann beugte er sich vor und gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Ich schlage vor, du beeilst dich, Anna. Deine neue Freundin wartet.«
Ambrose wollte losstürmen, um sie aufzuhalten. Doch die Büropflanze, mit einem Mal eine Brutstätte menschlicher Finger, schnappte nach ihm, kniff ihn ins Fleisch, während eine Ranke sich um sein Bein
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