Carpe Somnium (German Edition)
kam von irgendwoher der Ziegenhund angesprungen und blieb schlitternd vor Mistletoe stehen.
»Hi, Patricia«, sagte Mistletoe, woraufhin ihr das Tier mit seinem gebogenen Horn einen Stups gab. Ivor pfiff ein zweites Mal. Patricia schaute Mistletoe erwartungsvoll an, dann trottete sie an seine Seite.
Magnus tippte sich an die Hutkrempe. »Ich würde dir ja noch einen letzten Ratschlag mitgeben, aber ich nehme an, du würdest einen Weg finden, das Gegenteil zu tun. Also sage ich jetzt zum letzten Mal einfach nur
Carpe somnium
.«
Magnus folgte seinem Bruder hinaus in den Tunnel, während Patricia wie ein echter Hirtenhund die schwerfälligen Kreaturen durch die Tür trieb. Als Mistletoe wieder allein war und die Schritte langsam verhallen hörte, setzte sie sich und schob die Kapsel zwischen ihre Zähne. Dann schloss sie die Augen und biss kräftig zu.
14
Unison 3.0 (Beta)
Der User, den seine Freunde als Adam Trevor kannten, stand draußen vor dem schmiedeeisernen Tor und blickte durch die Gitterstäbe auf die üppigen Apfelbäume, die den gewundenen Steinpfad bis zum Portal des herrschaftlichen Hauses säumten. Vollkommen gebannt sah er zu, wie aus dem Haus ein weiterer mit Giebeln versehener Flügel spross, drei Stockwerke makellosen Backsteinmauerwerks mit einem angrenzenden Turm. Überall um ihn herum strömten die losgelösten Profildaten seiner Mit-User in einem endlosen Zug durch das Tor, über das Grundstück hinweg und hinein in die Wände des Hauses. Ein Fluss aus fröhlichen Gedanken-Stream-Plaudereien – geisterhafte Worte und umherwirbelnde Sätze – gesellte sich zu einem flackernden Berg von Bildern Tausender Neujahrspartys voll spitzer Papphüte und Champagnerkügelchen. Ein Kalender strich an seinem Arm vorüber, entfaltete sich und verteilte zahllose Seiten mit Veranstaltungseinladungen flatternd über die Bäume. Kurz darauf nahm das Dach des Hauses sie in sich auf.
Adam Trevor spürte ein angenehmes Ziehen, das hinter seinen Augen begann und sich bis hinunter in seinen Brustkorb ausdehnte, als würde jemand ihn sorgsam in seinem Innern massieren. Er war viel zu lang fort gewesen, hatte sinnlose Dinge getan, an die er sich kaum mehr erinnern konnte.
Adam Trevor ist endlich zu Hause!
Das Eingangstor schwang auf, und er ging den Pfad entlang, nahm sich einen Moment Zeit, die Augen zu schließen und den leisen Duft reifer Äpfel einzuatmen, der in der kaum merklichen Brise hing. Zu seinen Füßen füllten zerstreute Daten die Fugen zwischen den Steinen, flüchtige Eindrücke von glücklichen Tagen mit guten Freunden. Schließlich, nach einer Minute oder auch mehreren Tagen des Gehens (da konnte man sich unmöglich sicher sein, und es machte ja ohnehin keinen Unterschied), erreichte Adam Trevor ein imposantes Portal mit einer prächtigen hölzernen Flügeltür. Im Bogenfeld darüber hockte ein Wasserspeier wie ein Hund auf den Hinterbeinen, mit merkwürdig vertrauten Zügen und auf dem Kopf einem kleinen Büschel sandfarbenen Menschenhaars. Adam warf einen letzten Blick zurück auf die elegant gestaltete Parkanlage und sah starr vor Staunen zu, wie die schlangenartigen Datenströme sich gleich Serpentinen über die sanft geschwungenen Hügel wanden. Er legte seine Hand auf die Tür und fühlte das Pochen von einer Milliarde User-Leben. Dann drückte er, und die schwere Tür schwang auf. Er trat ein.
Das Ziehen hinter seinen Augen und in seinem Brustkorb verwandelte sich ohne Vorwarnung in ein unerträgliches Zerren, als hätte eine Faust seine Organe gepackt und würde sie ihm nun durch die Haut herausreißen. Er war fassungslos angesichts des jähen Verrats an dem Frieden und der Behaglichkeit, die das Grundstück draußen vermittelte. Es war sehr dunkel. Dann plötzlich wich der Schmerz aus seinem Körper, so als würde ein Pflaster ruckartig von einer Wunde gerissen. Er öffnete die Augen. Es war immer noch dunkel.
Die Stimme eines Mannes sagte: »Ambrose. Ich werde das Licht einschalten.«
Er schluckte.
Mein Name ist Ambrose Truax.
Er erinnerte sich, Greymatter wachsen gesehen zu haben. Jemand war bei ihm gewesen.
»Mistletoe?«
»Leider nein.«
Das Licht wurde langsam heller, ein Dutzend fest eingebaute Lampen, geregelt über einen Dimmer. Er befand sich in einem gemütlichen Büro, in dessen mahagonivertäfelte Wände Regale mit Glasböden eingelassen waren. Winzige Punktstrahler leuchteten an jedem der Böden von unten herauf und illuminierten Dutzende altmodische Bilderrahmen.
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