Carpe Somnium (German Edition)
Eine hochgewachsene, fleischige Büropflanze stand neben einem wuchtigen Eichenholzschreibtisch, den man dunkel gebeizt und zu einem glänzenden Prunkstück poliert hatte. An einer Ecke des Schreibtischs lag fein säuberlich ein Stapel Papier, direkt neben einem Becher, in dem ein Sortiment Federhalter und eine Schere steckten. Auf dem Becher stand:
Seh ich etwa aus wie ein Morgenmensch?
Martin Truax saß hinter dem Schreibtisch und wirkte in seinem vertrauten blauen Anzug frisch und energisch. Er hielt mit beiden Händen ein Blatt Papier vor sich hin, so wie in alten Zeiten die Nachrichtensprecher. Er schenkte Ambrose ein strahlendes Lächeln, der zurückschreckte, weil die weißen Zähne einen Augenblick länger in der Luft zu funkeln schienen, als das Lächeln dauerte.
»Es schien mir das Beste, auf deine Maske zu verzichten«, sagte Martin. »Das Adam-Trevor-Profil passt nicht zu dir. Antike Möbel?« Er schüttelte den Kopf und legte das Papier beiseite. Tief in den Wänden vibrierte etwas, und Ambrose glaubte, ein bleiches menschliches Ohr aus der Pflanze sprießen zu sehen, ehe es sich in ein dralles grünes Blatt verwandelte. Er konzentrierte sich auf seine letzte klare Erinnerung: Mistletoes abruptes Log-out.
»Was hast du mit ihr gemacht?«, fragte Ambrose.
»Nichts.«
»Und mit Len? War das etwa auch nichts?«
»Ich habe ihn kontrolliert bewegungsunfähig schießen lassen. Der Disruptor hat ihn bloß paralysiert. Er ist mein
Sohn
, Ambrose.«
»Anders als ich.«
»Du bist die Zukunft.«
»Ich hab ihn sterben sehen, Dad.« Ambrose erschrak. Er hatte Martin nie wieder
Dad
nennen wollen. Und er war wütend auf sein eigenes Hirn, das ganz automatisch eine Empfindung professioneller Ehrfurcht ausgelöst hatte. Selbst jetzt noch hatte ein Teil von ihm das Gefühl, über irgendwas ausführlich Bericht erstatten zu sollen.
»Aber du hast doch auch andere Dinge gesehen«, sagte Martin.
Die Pflanze raschelte und streckte Ambrose eine Flasche mit einer dunklen, sprudelnden Flüssigkeit entgegen. Die Flasche schwitzte kleine Wasserperlen, so als wäre sie eben aus einem Eimer mit Eiswürfeln gezogen worden. Martin faltete die Hände und lehnte sich in seinem Sessel zurück. »UniCola?«
»Hab keinen Durst. Und ich weiß, was ich gesehen habe.«
Die Flasche zuckte zwischen die Blätter zurück. Die Pflanze ließ die Blätter hängen. Sie schien enttäuscht.
»Tust du das?«, fragte Martin. »Erinnere dich an die rapide Verschlechterung bei den Testobjekten, die sich vor dir einer Level Sieben unterzogen haben. Dein Verstand ist nicht anders, Ambrose. Er braucht regelmäßige Kalibrierung. Lass mich dir dein Leben zurückgeben. Volle Process-Flow-Routine, deine Stelle bei UniCorp. Alles.«
Martin lehnte sich nach vorn, stützte die Ellbogen auf den Tisch. Der Bilderrahmen auf dem Regal über seinem Kopf zeigte den Schnappschuss eines jüngeren Martin Truax, der auf der Genfarm in der New England Expansion im Gras saß. Neben ihm steckten Ambrose und Len ihre Gesichter in zwei riesige Eiscremehörnchen. Ambrose erinnerte sich an den Geschmack: sahnige Synth-Vanillemilch, direkt von der Quelle.
»Wir waren einmal eine Familie«, fuhr Martin fort. »Ich weiß, ich war in letzter Zeit ziemlich beschäftigt, aber trotzdem kann alles wieder so werden, wie es war.«
»Weißt du noch, was du mir letztes Jahr zum Geburtstag geschenkt hast?«
Martins Gesicht war eine reglose Maske.
»Neue Process-Flow-Zuteilungen. Du hast mein Arbeitsvolumen verdoppelt.« Ambroses Herz klopfte hart. Vor wenigen Tagen noch hätte er diese Dinge niemals gesagt. Vor wenigen Tagen noch wusste er ja nicht einmal, dass er so empfand. Sein Blick hob sich zu dem Bild auf dem Regal. »Ich hätte mich schon über eine Kugel Eis gefreut.«
»Manchmal wünschte ich, ich könnte all das zurücknehmen«, sagte Martin sanft, »dich von UniCorp fernhalten. Andererseits gab es im Verlauf unserer Arbeitstage immer wieder Augenblicke, in denen mir plötzlich irgendeine kleine vertraute Geste von dir auffiel, etwa wie du deinen Arm bewegst, und sofort wurde mir bewusst, dass ich ein Kernstück von mir auf dich übertragen hatte. Ich fühlte mich wie der glücklichste Vater der Welt, weil ich Seite an Seite mit meinem Sohn arbeitete.«
Das Bild auf dem Regal verwandelte sich in eine ältere Szene: weiße Sanddünen am Strand des UniCorp-Erholungsparks auf Hawaii. Martin mit Baby-Ambrose im Arm, daneben Len, wie er auf wackligen Beinen durch das
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