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Caspar Hauser oder Die Traegheit des Herzens

Caspar Hauser oder Die Traegheit des Herzens

Titel: Caspar Hauser oder Die Traegheit des Herzens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
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Polizeileutnant.« Den Kindern werd’ ich Geschenke bringen, und wenn dann der Polizeileutnant kommt, zu dem werd’ ich nicht reden, den werd’ ich nur anschauen, nur anschauen ...
    Von der Gumbertuskirche schlug es halb vier. Es war noch viel zu früh. Auf dem unteren Markt ging Caspar rings an den Häusern herum. Vor dem Pfarrhaus blieb er eine Weile sinnend stehen. Infolge seiner inneren Hitze spürte er die Kälte kaum. Er sah nur wenige Leute, die, wie vom Wind gepeitscht, schnell vorüberhuschten.
    Als er sich von der Hofapotheke rechts gegen den Schloßdurchlaß wandte, schlug es dreiviertel. Da rief jemand; er blickte empor, der Fremde von gestern stand neben ihm. Er trug einen Mantel mit mehreren Kragen und darüber noch einen Pelzkragen. Er verbeugte sich und sagte ein paar höfliche Worte. Caspar verstand ihn nicht, denn der Wind war gerade so heftig, daß man hätte schreien müssen, um einander zu hören. Daher machte der Fremde bloß eine Gebärde, durch die er Caspar bat, mit ihm gehen zu dürfen. Offenbar war er selbst eben im Begriff gewesen, den Ort des Stelldicheins aufzusuchen.
    Bis zum Hofgarten waren es nur noch wenige Schritte. Der Fremde öffnete das Türchen und ließ Caspar den Vortritt. Caspar ging voran, als ob es so sein müsse. Eine Mischung von einfältiger Ergebenheit und ruhigem Stolz zeigte sich in seinem Gesicht, um mit sonderbarer Raschheit einem Ausdruck des Grauens Platz zu machen, denn der Augenblick war zu stark, er konnte seine Wucht nicht ertragen. In dem Zeitraum, den er brauchte, um von dem Pförtchen über den dichtbeschneiten Orangerieplatz zu den Bäumen der ersten Allee zu gehen, durchlebte er in seinem Innern eine Reihe gänzlich unzusammenhängender Szenen aus ferner Vergangenheit, eine Erscheinung, die von Seelenforschern auf dieselbeWurzel zurückgeführt werden kann wie etwa die, daß ein von einem Turm Fallender während der Zeit des Sturzes sein ganzes Dasein an sich vorübergleiten sieht. Er erblickte zum Beispiel die Amsel, die mit ausgebreiteten Flügeln auf dem Tisch lag; dann sah er mit ungemeiner Deutlichkeit den Wasserkrug, aus dem er in seinem Kerker getrunken; dann sah er eine schöne goldene Kette, die ihm der Lord aus seinen Schätzen gezeigt, womit die angenehme Empfindung verbunden war, die ihm Stanhopes weiße, feine Hand erregte; ferner sah er sich im Saal der Nürnberger Burg, wohin Daumer ihn geführt, und sein Auge weilte auf der sanften Linie einer gotischen Fensterwölbung mit einem Entzücken, das er damals sicherlich nicht verspürt hatte.
    Sie kamen zum Kreuzweg, da eilte der Fremde voraus und gab mit erhobenem Arm irgendein Zeichen. Caspar gewahrte hinter dem Gebüsch noch zwei andre Personen, deren Gesichter durch die aufgestellten Mantelkragen völlig verhüllt waren.
    »Wer sind diese?« fragte er und zauderte, weil er annahm, hier sei der verabredete Platz.
    Mit den Blicken suchte er den Wagen. Das Schneegestöber erlaubte jedoch nicht weiter als zehn Ellen zu sehen.
    »Wo ist der Wagen?« fragte er. Da der Fremde auf beide Fragen nicht antwortete, schaute er ratlos gegen die zwei hinter dem Gebüsch. Diese näherten sich oder es schien wenigstens so. Sie riefen dem Blatternarbigen etwas zu, erst der eine, dann der andre. Darauf entfernten sie sich wieder und standen dann auf der andern Seite des Wegs.
    Der Fremde drehte sich um, griff in die Tasche seines Mantels, brachte ein lilafarbenes Beutelchen zum Vorschein und sagte mit heiserer Stimme: »Öffnen Sie es; Sie werden darin das Zeichen finden, das uns Ihre Mutter übergab.«
    Caspar nahm das Beutelchen entgegen. Während er sich bemühte, die Schnur zu entknüpfen, durch die es zugebunden war, hob der Fremde einen langen, blitzenden Gegenstand in der Faust und schnellte mit dem Arm gegen Caspars Brust.
    Was ist das? dachte Caspar bestürzt. Er fühlte etwas Eiskaltes tief in sein Fleisch glitschen. Ach Gott, das sticht ja, dachte er und wankte dabei. Den Beutel ließ er fallen.
    O ungeheurer, ungeheurer Schrecken! Er griff nach einem der Baumstämmchen und versuchte zu schreien, aber es ging nicht. Auf einmal brach er in die Knie. Vor seinen Augen wurde es schwarz. Er wollte den Fremden bitten, daß er ihm helfe, doch die Füße des Mannes, die er noch eine Sekunde zuvor gesehen, waren verschwunden. Die Schwärze vor den Augen wich wieder; er sah sich um; niemand war mehr da; auch die beiden hinter dem Gebüsch waren nicht mehr da.
    Er kroch nun auf allen vieren ein wenig am

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