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Caspar Hauser oder Die Traegheit des Herzens

Caspar Hauser oder Die Traegheit des Herzens

Titel: Caspar Hauser oder Die Traegheit des Herzens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
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Endliche, das jenseitig Sichere, das Ungefragte, dem kein Wort der menschlichen Sprache, ja nicht einmal ein Gedanke, eine Vorstellung, eine Vision mehr nahekommen konnte und das sich so vorbestimmt vollzieht wie der Aufgang der Sonne, wenn es Tag wird. O ihr müdgetriebenen Glieder, ihr Ketten an den Gliedern, ihr trägen Minuten, ihr schweigenden Stunden! Noch prasselt der Kalk in der Mauer, noch bellt von fern ein Hund, noch bläst der Sturm den Schnee ans Fenster, noch knistert das Licht auf der Kerze, und alles dies ist voll Bosheit, weil es so beständig scheint, so langsam vergeht.
    Um neun Uhr begab er sich zur Ruhe. Er schlief fest, später in der Nacht hörte er alle Viertelstundenschläge von den Kirchen. Bisweilen richtete er sich auf und schaute beklommen in die Finsternis. Dann kam ein Traum, in dem Schlaf und Wachen unmerklich ineinander flossen. Ihm träumte nämlich, er stehe vor dem Spiegel, und er dachte: Wie sonderbar, ich habe ein so bestimmtes Gefühl von der Glätte des Spiegelglases, und doch träume ich nur. Er erwachte oder glaubte zu erwachen, verließ das Bett oder glaubte es zu tun, machte sich im Zimmer zu schaffen, legte sich wieder hin, schlief ein, erwachte abermals und grübelte: Sollte ich das mit dem Spiegel nur geträumt haben? Jetzt trat er vor den Spiegel hin, gewahrte sein umschattetes Bild, fand etwas Fremdes daran, wovor ihm graute, und bedeckte den Spiegel mit einem Tuch, das blau war und goldene Borten hatte. Als er sich nun hingelegt hatte und nach einer Weile wirklich erwachte, da erkannte er, daß alles nur einTraum gewesen war, denn der Spiegel war keineswegs verhängt.
    Es war eine lange Nacht.
    Des Morgens ging er wie gewöhnlich aufs Gericht. Er verrichtete seine Schreibarbeit wie mit verschleierten Augen. Um elf Uhr klappte er das Tintenfaß zu, räumte auch hier alles säuberlich zusammen und entfernte sich still.
    Quandt war wegen einer Lehrerkonferenz über Mittag vom Hause fort. Caspar saß mit der Frau allein bei Tisch. Sie sprach beständig vom Wetter. »Der Sturm hat den Schlot auf unserm Dach umgerissen,« erzählte sie, »und der Schneider Wüst von nebenan ist durch die herunterfallenden Ziegel beinahe erschlagen worden.«
    Caspar blickte schweigend hinaus: er konnte kaum das gegenüberliegende Gebäude sehen; Regen und Schnee untermischt wirbelten durch die verdunkelte Gasse.
    Caspar aß nur die Suppe; als das Fleisch kam, stand er auf und ging in sein Zimmer.
    Punkt drei Uhr kam er wieder herunter, nur mit seinem alten braunen Rock bekleidet und ohne Mantel.
    »Wo wollen Sie denn hin, Hauser?« rief ihn die Lehrerin von der Küche aus an.
    »Ich muß beim Generalkommissär etwas holen,« entgegnete er ruhig.
    »Ohne Mantel? Bei der Kälte?« fragte die Frau erstaunt und trat auf die Schwelle.
    Er sah zerstreut an sich herab, dann sagte er: »Adieu, Frau Lehrerin,« und ging.
    Bevor er die Haustür schloß, warf er noch einen Abschiedsblick in den Flur, auf das geschweifte Geländer der Treppe, auf den altenbraunen Schrank mit den Messingschnallen, der zwischen Küchen- und Wohnzimmertür stand, auf das Kehrichtfaß in der Ecke, das mit Kartoffelschalen, Käserinden, Knochen, Holzspänen und Glassplittern angefüllt war, und auf die Katze, die stets heimlich und genäschig hier herumschlich. Trotz des blitzhaft schnellen Anschauens dieser Dinge schien es Caspar, als ob er sie nie deutlicher und nie so absonderlich gesehen hätte.
    Als die Klinke eingeschnappt war, ließ der schier unerträgliche Druck, der seine Brust verschnürte, ein wenig nach, und seine Lippen verzogen sich zu einem schalen Lächeln.
    Dem Lehrer werd’ ich schreiben, dachte er; oder nein, besser ist es, selber zu kommen; wenn der Winter vorbei ist, werd’ ich kommen und mit dem Wagen vors Haus fahren; ich werd’ es einrichten, daß es Nachmittag sein wird, da ist er daheim. Wenn er vors Tor tritt, werd’ ich ihm nicht die Hand reichen, ich will mich stellen, als ob ich ein andrer wäre, in meinen schönen Kleidern wird er mich ja nicht erkennen. Er wird einen tiefen Bückling machen: »Wollen Euer Gnaden gnädigst eintreten?« wird er sprechen. Wenn wir im Zimmer sind, stell’ ich mich vor ihn hin und frage: »Erkennen Sie mich nun?« Er wird auf die Knie fallen, aber ich reiche ihm die Hand und sage: »Sehen Sie jetzt ein, daß Sie mir unrecht getan haben?« Er wird es einsehen. »Ei,« sag’ ich, »zeigen Sie mir doch mal Ihre Kinder und schicken Sie nach dem

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