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Caspar Hauser oder Die Traegheit des Herzens

Caspar Hauser oder Die Traegheit des Herzens

Titel: Caspar Hauser oder Die Traegheit des Herzens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
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essen ja gar nichts mehr,« sagte die Lehrerin besorgt.
    »Ich habe keinen Appetit,« erwiderte Caspar; »kaum daß ich angefangen habe zu essen, bin ich auch schon satt.«
    Am Mittwoch, dem elften Dezember, kam Quandt verspätet und sehr erregt zu Tisch. Er hatte auf dem Heimweg von der Schule einen heftigen Auftritt mit einem Fuhrknecht gehabt, der in der bergigen Pfarrgasse sein Pferd zuschanden geschlagen hatte, weil es den schwerbeladenen Wagen nicht zum Hafenmarkt hinaufziehen konnte. Quandt hatte dem rohen Kumpan Vorstellungen gemacht und einige hinzukommende Bürger zu Zeugen der unmenschlichen Quälerei angerufen. Dafür war der Fuhrknecht mit erhobenem Peitschenstiel auf ihn losgegangen und hatte ihn angebrüllt, er solle sich zum Teufel scheren und sich nicht um Sachen kümmern, die ihn nichts angingen. »Gott sei Dank ist mir der Name des Kerls bekannt, und ich werde dem Polizeileutnant darüber Meldung erstatten,« schloß Quandt. Er wurde nicht müde zu beschreiben, wie der armselige Klepper vor dem Gefährt immer wieder vergeblich an den Strängen gezerrt habe und wie das schwarze Blut unter seinen Rippen hervorgequollen sei. »Der Spitzbube,« grollte er, »ich werde es ihm zeigen, ein Tier so zu rackern.«
    Nachher, als Caspar weggegangen war, fragte ihn seine Frau, ob es ihm denn nicht aufgefallen sei, daß Caspar gar kein Wort über die Geschichte fallen gelassen habe.
    »Ja, er war ganz stumm, es ist mir aufgefallen,« bestätigte Quandt.
    Eine halbe Stunde darauf ging er in Caspars Zimmer und bat ihn, die schriftliche Anzeige gegen den Fuhrknecht, die er verfaßt hatte, in der Wohnung Hickels abzugeben. Um drei Uhr kehrte Caspar mit der Nachricht zurück, der Polizeileutnant habe einen mehrtägigen Urlaub genommen und sei verreist.
Aenigma sui temporis
    Es geschah am übernächsten Tage, einem Freitag, als Caspar kurz nach zwölf das Gerichtsgebäude verlassen wollte, daß er im Korridor vor der unteren Treppe von einem fremden Herrn angesprochen wurde, einem anscheinend sehr vornehmen Mann, der groß und schlank war, einen schwarzen Backen- und Kinnbart trug, und der ihn aufforderte, ihm wenige Minuten Gehör zu schenken.
    Caspar stutzte, denn in der Stimme des Mannes war etwas sehr Dringliches und etwas sehr Achtungsvolles.
    Sie gingen ein paar Schritte seitwärts von der Treppe, wo niemand vorüberkommen konnte. Der Fremde lächelte ermutigend, als er Caspars scheues Wesen bemerkte, und begann sogleich in derselben dringlichen und achtungsvollen Weise: »Sie sind Caspar Hauser? Bis heute sind Sie es gewesen. Morgen werden Sie diesen Namen abstreifen. Wie mich schon der erste Blick in Ihr Gesicht belehrt und erschüttert hat! Prinz, mein Prinz! Erlauben Sie mir, Ihnen die Hand zu küssen.«
    Er bückte sich rasch und küßte ehrfurchtsvoll Caspars Hand.
    Caspar hatte keine Worte. Er sah aus wie einer, dem plötzlich das Herz stillsteht.
    »Ich komme vom Hof, ich komme als Abgesandter Ihrer Mutter, ich komme, Sie zu holen,« fuhr der Fremde fort, nicht weniger hastig, nicht weniger respekterfüllt. »Ich vermute, daß Sie seit langem darauf vorbereitet sind. Doch müssen wir auf der Hut sein. Wir haben große Hindernisse zu scheuen. Sie müssen mit mir entfliehen. Alles ist bereit. Die Frage ist nur, ob Sie willens sind, sich ohne Rückhalt mir anzuvertrauen, und ob ich auf Ihre unbedingte Verschwiegenheit rechnen darf?«
    Wie sollte Caspar imstande sein, darauf zu antworten? Er schaute in das Gesicht des Mannes, das ihm in jeder Beziehung außergewöhnlich, ja märchenhaft erschien, und mit stupider Aufmerksamkeit haftete sein Blick auf den zahllosen kleinen Blatternarben, die auf der Nase und den Wangen des Fremden sichtbar waren.
    »Ihr Schweigen ist für mich beredt,« sagte der Fremde mit einer schnellen Verbeugung. »Der Plan ist der: Sie finden sich morgen nachmittag um vier Uhr im Hofgarten ein, und zwar neben der Lindenallee, wenn man vom Freibergschen Haus kommt. Man wird Sie von dort zu einem bereitstehenden Wagen führen. Die einbrechende Dunkelheit wird unsre Flucht begünstigen. Kommen Sie ohne Mantel, so wie Sie sind; Sie werden standesgemäße Kleider finden. Bei der ersten Raststation an der Grenze, die wir in drei Stunden erreichen können, werden Sie sich umkleiden. Ich bin Ihnen unbekannt. Sie sollensich dem Unbekannten nicht auf Treu und Glauben übergeben. Bevor Sie in den Wagen steigen, werde ich Ihnen ein Zeichen behändigen, an dem Sie unzweifelhaft erkennen werden, daß

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