Caspar Hauser oder Die Traegheit des Herzens
recht müde.«
»Wie ist Ihnen, Hauser?« erkundigte sich die Wärterin.
»Müde,« wiederholte er; »werd’ jetzt bald weggehen von dieser Lasterwelt.«
Eine Weile schrie und redete er für sich hin, hernach wurde er wieder ganz stille.
Er sah ein Licht, das langsam erlosch. Er vernahm Töne, die aus dem Innern seines Ohrs zu dringen schienen; es klang, wie wenn man mit einem Hammer auf eine Metallglocke haut. Er erblickt eine weite, einsame, dämmernde Ebene. Eine menschliche Gestalt rennt schnell darüber hin. O Gott, es ist Schildknecht. Was läufst du so, Schildknecht? ruft er ihm zu. Hab’ Eile, große Eile, antwortet jener. Auf einmal schrumpft Schildknecht zusammen, bis er eine Spinne ist, die an einem glühenden Faden zum Ast eines riesengroßen Baumes emporklimmt. Tränen des Grauens fallen wie Regen aus Caspars Augen.
Er sah ein seltsames Gebäude; es glich einer kolossalen Kuppel; es hatte kein Tor, keine Tür, kein Fenster. Aber Caspar konnte fliegen, flog hinauf und schaute durch eine kreisrunde Öffnung in das Innere, das von himmelblauer Luft erfüllt war. Auf himmelblauen Marmorfliesen stand eine Frau. Vor diese trat ein Mensch, kaum deutlicher zu sehen als ein Schatten, und er teilte ihr mit, daß Caspar gestorben sei. Die Frau hob die Arme und schrie vor Schmerz, daß die Wölbung erzitterte. Da klaffte der Boden auseinander und es kam ein langer Zug von Menschen, die alle weinten. Und Caspar sah, daß ihre Herzen zitterten und zuckten wie lebendige Fische in der Hand des Fischers. Und einer trat heraus, der gerüstet war und ein Schwert trug, der sprach ungeheure Worte, aus denen sich das ganze Geheimnis enthüllte. Und alle, die zuhörten, preßten die Hände gegen die Ohren, schlossen die Augen und stürzten vor Kummer zu Boden.
Dann war alles verwandelt. Caspar spürte sich voll von wunderbaren Kräften. Er spürte die Metalle in der Erde, von tief unten zogen sie ihn an, und die Steine spürte er, die Adern von Erz hatten. Dazwischen ruhte vielfältiger Samen, und er brach auf, und die Würzlein schossen und bebend hoben sich die Gräser. Aus dem Boden sprangen Quellen hoch empor wie Fontänen und auf ihren Spitzen leuchtete die willkommene Sonne. Und inmitten des Weltalls stand ein Baum mit weitem Gipfel und unzähligen Verästelungen; rote Beeren wuchsen aus den Zweigen, und auf der Krone oben bildeten die Beeren die Form eines Herzens. Innen im Stamm floß Blut, und wo die Rinde zerrissen war, sickerten schwärzlichrote Tropfen hindurch.
Mitten in diesem Wogen verzweiflungsvoller Bilder und krankhafter Entzückungen war es Caspar, als ob ihn jemand in einen Raum trüge, wo keine Luft zum Atmen mehr war. Da half kein Sträuben und Sichbäumen, es trug ihn hin und ein kühler Wind wehte über sein Haar, seine Finger krümmten sich, als suche er sich irgendwo zu halten. Es war eine namenlose Erschöpfung, von welcher der vergebliche Kampf begleitet war.
Auf der Straße fuhr der Nürnberger Postwagen vorbei, und der Postillon blies ins Horn.
Es kamen bis zum Abend viele Leute, um nach seinem Befinden zu fragen. Frau von Imhoff blieb lange an seinem Bett sitzen.
Um acht Uhr schickte die Pflegerin zum Pfarrer Fuhrmann, der mit größter Schnelligkeit eintraf. Er legte Caspar die Hand auf die Stirn. Mit angstvoll großen Augen schaute sich Caspar um; seine Schultern zitterten. Er machte mit demZeigefinger auf dem Deckbett Bewegungen, als wolle er schreiben. Das dauerte jedoch nicht lange.
»Sie haben mir einmal gesagt, lieber Hauser, daß Sie auf Gott vertrauen und mit seiner Hilfe jeden Kampf kämpfen wollen,« sagte der Pfarrer.
»Weiß es nicht,« flüsterte Caspar.
»Haben Sie denn heute schon zu Gott gebetet und ihn um seinen Beistand angerufen?«
Caspar nickte.
»Und wie ist Ihnen darauf gewesen? Haben Sie sich nicht gestärkt gefühlt?«
Caspar schwieg.
»Wollen Sie nicht wieder beten?«
»Bin zu schwach; vergehen mir gleich die Gedanken.« Und nach einer Weile sagte er wie für sich, seltsam leiernd: »Das ermüdete Haupt bittet um Ruhe.«
»So will ich ein Gebet sprechen,« fuhr der Pfarrer fort, »beten Sie im stillen mit. Vater, nicht mein –«
»Sondern dein Wille geschehe,« vollendete Caspar hauchend.
»Wer hat so gebetet?«
»Der Heiland.«
»Und wann?«
»Vor – seinem – Sterben.« Bei diesem Wort sträubte sich sein Körper empor und über sein Gesicht ging ein höchst qualvolles Zucken. Er knirschte mit den Zähnen und schrie dreimal gellend: »Wo
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