Caspar Hauser oder Die Traegheit des Herzens
paradiesischen Bildes gewahr wurde: Caspar im Garten, auf der Bank sitzend, ein Buch in der Hand; Schwalben ziehen ihre Zickzackkreise um ihn, Tauben picken vor seinen Füßen, ein Schmetterling ruht auf seiner Schulter, die Hauskatze schnurrt an seinem Arm. In ihm ist die Menschheit frei von Sünde, sagte sich Daumer bei diesem Anblick, und was wäre sonst zu leisten, als einen solchen Zustand zu erhalten? Was wäre hier noch zu enträtseln, was zu verkünden?
Eines andern Tages erhob sich im Nachbargarten großer Lärm. Ein bissiger Hund hatteseine Kette zerrissen und raste, Schaum vor dem Maul, in wilden Sprüngen umher, überrannte ein Kind, schlug einem Knecht, der ihn verfolgte, die Zähne ins Fleisch und stürzte gegen den Zaun des Daumerschen Gartens. Eine Latte krachte unter dem Anprall, das Tier schlüpfte herüber und richtete die blutunterlaufenen Augen wild auf die kleine Gesellschaft, die unter der Linde saß: Daumer selbst, dessen Mutter, der Bürgermeister Binder und Caspar. Alle standen ängstlich auf, Binder erhob den Stock, das Tier machte einige Sätze, blieb aber auf einmal stehen, schnupperte, trabte auf Caspar zu, der bleich und stille saß, wedelte mit dem Schweif und leckte die herabhängende Hand des Jünglings. Mit einem lodernden ungewissen Blick sah es ihn an, voll Ergebenheit fast, eine Zärtlichkeit erwartend, und es war, als erbitte es Verzeihung. Denselben ungewissen und ergebenen Ausdruck hatte auch Caspar im Auge; ihn jammerte der Hund, er wußte nicht warum.
Man erzählte sich, daß Daumer nach diesem Auftritt geweint habe.
Zwei Tage später, an einem regnerischen Oktoberabend, war es, daß sich Daumer mit seiner Mutter und Caspar im Wohnzimmer befand. Anna war zu einer Unterhaltung in die Reunion gegangen, die alte Dame saß strickend im Lehnstuhl am offenen Fenster, denn trotz der vorgerückten Jahreszeit war die Luft warm und voll des feuchten Geruchs verwelkender Pflanzen. Da wurde an die Türe geklopft, und der Glasermeister brachte einen großen Wandspiegel, den die Magd in der vergangenen Woche zerbrochen hatte. Frau Daumer hieß ihn den Spiegel gegendie Mauer lehnen, das tat der Mann und entfernte sich wieder.
Kaum war er draußen, so fragte Daumer verwundert, warum sie den Spiegel nicht gleich an seinen Platz habe hängen lassen, man hätte dann doch die Arbeit für morgen erspart. Die alte Dame erwiderte mit verlegenem Lächeln, am Abend dürfe man keinen Spiegel aufhängen, das bedeute Unheil. Daumer besaß nicht genug Humor für derlei halbernste Grillen; er machte der Mutter Vorwürfe wegen ihres Aberglaubens, sie widersprach, und da geriet er in Zorn, das heißt er sprach mit seiner sanftesten Stimme zwischen die geschlossenen Zähne hindurch.
Caspar, der es nicht sehen konnte, wenn Daumers Gesicht unfreundlich wurde, legte den Arm um dessen Schulter und suchte ihn mit kindlicher Schmeichelei zu begütigen. Daumer schlug die Augen nieder, schwieg eine Weile und sagte dann, völlig beschämt: »Geh hin zur Mutter, Caspar, und sag ihr, daß ich im Unrecht bin.«
Caspar nickte; ohne recht zu überlegen, trat er vor die Frau hin und sagte: »Ich bin im Unrecht.«
Da lachte Daumer. »Nicht du, Caspar! Ich!« rief er und deutete auf seine Brust. »Wenn Caspar im Unrecht ist, darf er sagen: ich. Ich sage zu dir: du, aber du sagst doch zu dir: ich. Verstanden?«
Caspars Augen wurden groß und nachdenklich. Das Wörtchen Ich durchrann ihn plötzlich wie ein fremdartig schmeckender Trank. Es nahten sich ihm viele Hunderte von Gestalten, es nahte sich eine ganze Stadt voll Menschen, Männer, Frauen und Kinder, es nahten sich die Tiere auf dem Boden, die Vögel in der Luft, die Blumen, die Wolken, die Steine, ja die Sonne selbst, undalle miteinander sagten zu ihm: Du. Er aber antwortete mit zaghafter Stimme: Ich.
Er faßte sich mit flachen Händen an die Brust und ließ die Hände heruntergleiten bis über die Hüften: sein Leib, eine Wand zwischen Innen und Außen, eine Mauer zwischen Ich und Du!
In demselben Augenblick tauchte aus dem Spiegel, dem gegenüber er stand, sein eignes Bild empor. Ei, dachte er ein wenig bestürzt, wer ist das?
Natürlich war er schon oft an Spiegeln vorbeigegangen, aber sein von den vielen Dingen der vielgesichtigen Welt geblendeter Blick war mitvorbeigegangen, ohne zu weilen, ohne zu denken, und er hatte sich daran gewöhnt wie an den Schatten auf der Erde. Ein Ungefähr, das ihn nicht hemmte, konnte nicht zum Erlebnis werden.
Jetzt war
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